Der neue Jugendterror
Ebene, die uns weder erkennbar noch begreiflich ist.
Trotz der Neigung der meisten Menschen zur opportunistischen Unterordnung unter die jeweils herrschenden Maximen und Moralbegriffe bis hin zum Tugendterror nimmt die Geschichte des Menschen und jene von Staaten und Gesellschaften immer wieder eine Wendung ins Neue und Unerwartete. Darum scheitert jeder geistige und politische Determinismus. Wenn man schon der Geschichte eine Mechanik zugrunde legen will, dann kann man sie mit den Vorgängen bei der Bildung einer Wolke, nicht aber mit einem Uhrwerk vergleichen. 375
Dabei gilt: Ideologische Konzepte kommen und gehen. Einen Wahrheitsanspruch haben sie nicht, und ihre Geltung ist zeitlich begrenzt. Das gilt auch für jene Ideologisierung der Gleichheitsidee, die der gegenwärtigen Ausprägung des Tugendwahns in Deutschland zugrunde liegt. Darauf gehe ich in Kapitel 6 näher ein, wo ich diese Form von Tugendwahn auf ihren Realitätsgehalt und auf ihre praktischen Konsequenzen hin untersuche.
365 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, München 2010, S. 18
366 Vgl. beispielhaft den Völkermord der Roten Khmer am eigenen Volk in Kambodscha. Johanna Adorján: Das Böse ist nicht banal, a.a.O.
367 Arthur Koestler: Sonnenfinsternis, a.a.O., S. 210
368 So die prägnante Formulierung des Untersuchungsrichters Gletkin beim Verhör Rubaschows, ebenda, S. 187
369 Ebenda, S. 212
370 Johann Wolfgang von Goethe: Faust, a.a.O., S. 363
371 Vor Angst erstarrt, Interview mit der Psychologin Veronika Brandstätter, Der Spiegel 11/2013, S. 62
372 Johann Wolfgang von Goethe: Faust, a.a.O., S. 26
373 Das wird wunderbar herausgearbeitet bei Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45, München 2011
374 Popper versteht unter Historizismus »jene Einstellung zu den Sozialwissenschaften, … die annimmt, dass historische Voraussage deren Hauptziel bildet und dass sich dieses Ziel dadurch erreichen lässt, dass man die ›Rhythmen‹ oder ›Patterns‹, die ›Gesetze‹ oder ›Trends‹ entdeckt, die der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen.« Vgl. Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1971, S. 2
375 Vgl. Karl R. Popper: Über Wolken und Uhren. Zum Problem der Vernunft und der Freiheit des Menschen, in ders.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973, S. 250 ff.
Schlussbetrachtung Ideologie, Wirklichkeit und gesellschaftliche Zukunft
Es ist grundsätzlich sehr anregend zu beobachten, wie Ströme von Meinungsbildung entstehen, sich formieren, für einige Zeit verfestigen und dann auch wieder verschwinden. Auch fasziniert es zu sehen, wie sich Epochen relativer Dumpfheit abwechseln mit Zeiten, in denen Wissenschaft und Künste zu explodieren und die Genies allerorten aus dem Boden zu sprießen scheinen.
Für die meisten Menschen ist das gewöhnlich ohne Bedeutung. Sie werden in eine bestimmte Kultur geboren, die sie nicht hinterfragen, finden dort ihre Rolle und ihre Aufgaben, vielleicht auch ein wenig Lebensglück, und verlassen diese Erde wieder.
Wer die Gesellschaft und ihre Bewegungen betrachtet, tut dies aus Neugier. Es ist unterhaltsam, zu beobachten oder historisch nachzuvollziehen, wie sich eines aus dem anderen ergibt. Schön ist es, wenn man davon einiges erklären und Kausalitäten finden kann, und noch schöner, wenn Entwicklungen scheinbar einen Sinn ergeben. Dann ist man vielleicht einem historischen Entwicklungsgesetz auf der Spur.
Der Mensch hat ein Bedürfnis nach Sinn, und dies umso mehr, als er ja vom Tode weiß. Also erfand er die Religion, bzw. die religiösen Offenbarungen fanden ihn. Mit dem Fortschritt der Naturwissenschaften musste die Religion im Abendland ins Abstrakte ausweichen. Damit verlor sie für viele ihren Sinn. Die Sinnsuche nahm nicht mehr das Jenseits oder Gott, sondern die menschliche Gesellschaft in den Blick. Das trieb seit dem späten 17. Jahrhundert die Philosophie und die unterschiedlichsten Gesellschaftstheorien an. Der neue Sinn war die Verbesserung der Gesellschaft, er diente für viele Sinnsucher als Religionsersatz. Gleichzeitig mit dem Kapitalismus entstanden so die sozialistischen Ideen. Sie waren die neue Religion, aber sie scheiterten spektakulär und kosteten auf dem Weg zu ihrem Scheitern meist sehr viel Blut.
Eine Idee ließen sie zurück: Gerechtigkeit durch Gleichheit. Gemeint war eher die Gleichheit der Ergebnisse und nicht die Gleichheit der Chancen. Aber wer das Gute
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