Der neunte Buddha - Thriller
Schnee.
Christopher lief, so schnell er konnte, zu der Stelle, wo er Chindamani mit den Jungen zurückgelassen hatte. Die dünne Luft biss in seine Lungen. Seine Brust hob und senkte sich heftig. Es schmerzte sehr. Höhe und Erschöpfung forderten ihren Tribut.
Die letzte Steigung. Er schleppte sich hinauf und fiel oben in ein weiches Bett von Schnee. Sich aufrichtend, blickte er auf den Pass hinunter. Er war leer.
DRITTER TEIL
Parousia
Der Weg nach Sining-fu
»Und welch räudiges Tier, des Zeit nun gekommen, Kreucht, um geboren zu werden, Bethlehem zu?«
W. B.Yeats, Das zweite Kommen
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Am meisten fürchtete Christopher, er könnte im Schnee einschlafen und der Kälte erliegen. Er war bereits von der Reise nach Dorje-la erschöpft gewesen. Nun forderten die Erlebnisse der letzten Nacht ihren Tribut. Es war bitterkalt, und sein einziger Schutz war die Kleidung, die er trug. Mehrmals ertappte er sich bei einer Rast, dass er beinahe eingeschlafen wäre. Er wusste, dass Samjatin und die anderen auch müde waren, aber nicht so sehr wie er selbst. Und sie hatten zwei Zelte, etwas Brennmaterial und Proviant. Seine einzige Hoffnung waren die Spuren, die ihm sagten, welche Richtung sie eingeschlagen hatten. Er wollte ihnen folgen, solange seine Kräfte reichten.
In der ersten Nacht fand er eine kleine Ausbuchtung in einer Felswand – nicht gerade eine Höhle, aber groß genug, um ihn ein wenig vor den beißenden Winden zu schützen. Seit dem Abend des vergangenen Tages hatte er nichts mehr gegessen.
Den ganzen nächsten Tag trottete er vor sich hin. Dabei geriet er tiefer und tiefer in die Bergwelt. An Umkehren war nicht zu denken. In beiden Richtungen gab es jetzt nur noch Schnee und Eis. Die Spuren zu seinen Füßen waren das Einzige, was in dieser Welt noch für ihn zählte. Alles andere schien ausgelöscht.
Träume plagten ihn. Sein erschöpftes Hirn malte seltsame Bilder auf den weißen Schnee. Einmal sah er eine Reihe verfallener Pyramiden, die von ihm fort bis zum dunklen Horizont liefen. Auf beiden Seiten flankierten sie Sphinxfiguren, in schwarze Seide gehüllt und mit Lorbeerkränzen gekrönt.Sein Schlafbedürfnis war überwältigend. Er wollte sich nur noch niederlegen und seinen Träumen hingeben. Jeder Schritt bedeutete Kampf, jeder Augenblick, den er wach blieb, war ein kleiner Sieg.
Am zweiten Abend hielt er sich munter, indem er die Pistole gegen sich selbst richtete und seinen Daumen an den Abzug legte. Wenn er zu weit nach vorn fiel, würde sie losgehen. Er sang laut in die Dunkelheit hinaus und übte Kopfrechnen.
Am dritten Morgen fand er in einem Felsen einen weiteren Unterschlupf, diesmal wesentlich geräumiger als der erste. Er kroch hinein und fiel sofort in tiefen Schlaf. Als er erwachte, war es heller Tag. Er fühlte sich immer noch schlapp, musste aber etwa vierundzwanzig Stunden geschlafen haben, so steif waren seine Glieder und so groß sein Hunger.
Er verließ die Höhle und fand sich in einer völlig veränderten Welt wieder. Offenbar hatte es, während er schlief, einen Schneesturm gegeben. Der hatte die Spuren verweht, denen er bisher gefolgt war. Beinahe hätte er aufgegeben. Für den schnellen Tod genügte eine kleine Kugel. Aber er entschied sich fürs Weitergehen und einen Weg in der allgemeinen Richtung, die Samjatin eingeschlagen haben musste – nach Norden.
Fünf Stunden später stieß er bei einem kleinen Bergsattel am Rande eines Gletschers auf Chindamani. Als Christopher sie fand, saß sie neben einem kleinen Zelt und betete leise immer wieder dieselbe Mantra. Sie erinnerte ihn an seinen Vater, der den Lobgesang des Simeon gebetet hatte.
Um sie nicht zu erschrecken, ließ er sich geräuschlos neben ihr nieder. Zunächst setzte sie ihr Gebet fort, in die Mantra vertieft und allem Irdischen entrückt. Dann wurde sie seiner gewahr und verstummte.
»Fahr nur fort«, sagte er. »Ich wollte dich nicht stören.«
Sie wandte sich ihm zu und blickte ihn wortlos an. Bisher hatte er sie stets nur beim trüben Licht der Butterlampen oder als Silhouette im Mondschein gesehen. Jetzt, im harten Licht des Tages, wirkte sie bleich, abgespannt und ohne jede Wärme.
»Wie lange bist du schon hier?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Schon lange.« Sie verstummte.
»Bist du gekommen, um mich zurückzuholen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe den Weg verloren«, sagte er. »Es hat einen Schneesturm gegeben. Der hat alle Spuren verwischt. Selbst wenn
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