Der neunte Buddha - Thriller
auf sein Klopfen mit finsteren, unfreundlichen und, wie Christopher meinte, erschrockenen Gesichtern. Sie errieten, dass er der gefährliche Pee-ling war, den sie hatten gefangen nehmen sollen. Aber sie hatten erwartet, ihn innerhalb der Klostermauern zu finden. Jetzt stand er plötzlich draußen vor der Tür.
Christopher hatte bei der Flucht aus Chindamanis Raum Tsarong Rinpoche die Pistole abgenommen. Nun tastete er nach ihr in seiner Tasche, einem düsteren Gegenstand, der ihn an ein anderes Leben erinnerte.
»Ich bin gekommen, um mit Samjatin zu sprechen«, sagte er.
Die Mönche beäugten ihn ängstlich. Sie konnten nicht verstehen, woher er mit einem Mal auftauchte. Seine Kleider waren schmutzig und voller Spinnweben, sein Blick gestört von etwas, das sie sich nicht erklären konnten. Sie trugen chinesische Hellebarden, schwere Werkzeuge des Krieges mit langen Klingen, die sogar stumpf gefährliche Wunden schlagen konnten. Aber die Waffen in ihren Händen gaben ihnen kein Gefühl von Sicherheit. Sie hatten – in sehr allgemeiner Form – von Tsarong Rinpoches Schicksal gehört. Samjatin hatte ihnen befohlen, den Eingang zu bewachen, aber der Aberglaube in ihnen war viel stärker als jeder Befehl dieses Fremden.
»Samjatin darf nicht gestört werden«, sagte der eine Wachposten, der etwas mutiger oder törichter schien als der andere.
»Ich werde ihn stören«, erwiderte Christopher, als sei es das Natürlichste von der Welt. Es erschütterte die Mönche noch mehr, dass der Pee-ling so ruhig blieb, statt wütend oder großsprecherisch aufzutreten. Die ersten Gewissensbisse über das, was geschehen war, machten sich bei ihnen bemerkbar. Nach der Orgie des Todes litten die meisten jetzt am Katzenjammerder Unsicherheit. Ohne Tsarong Rinpoche als Anführer waren sie wie Kinder, die man im Spiel zu unbeabsichtigten Streichen angestiftet hatte.
Christopher spürte ihre Unsicherheit und ging einfach an ihnen vorbei. Einer der Männer forderte ihn auf stehenzubleiben, aber er kümmerte sich nicht darum, und sie ließen ihn gewähren.
Obwohl bald der Tag graute, rief niemand zur Morgenandacht. Dorje-la würde heute verschlafen, wenn es überhaupt schlief.
Er stieg bis zum Obergeschoss hinauf – müde, traurig und geschlagen. Schnell durchquerte er die Räume der fünf Elemente und gelangte in die Chörten -Halle. Niemand hielt ihn auf. Er hörte keine Stimmen und bemerkte auch sonst nichts, was auf die Anwesenheit von Menschen hindeutete.
Die lange Halle war leer. Nur die Toten in ihren Grabstätten sahen ihn eintreten. Das erste fahle Tageslicht fiel durch das unverhüllte Fenster herein, an dem noch immer die Lampe brannte. Christophers Müdigkeit wich einer tiefen Unruhe. Wo war der Russe?
»Samjatin!«, rief er. Seine Stimme hallte unnatürlich laut in dem großen Raum wider. Keine Antwort.
»Samjatin! Sind Sie da?«, rief er wieder. Aber alles blieb still.
Er ging durch die Halle mit dem Fenster, von wo man den Pass sehen konnte, mit all den Erinnerungen, die schmerzten, weil sie noch so frisch waren. Wo sein Vater zu neuem Leben erwachte und er selbst ihn mit großen Augen angestarrt hatte. Zu viele Gespenster. Zu viele Schatten.
Er eilte zum Schlafgemach des Abts. Die Tür war verschlossen, aber ohne Wache kein wirkliches Hindernis. Das Schloss war eher Schmuckwerk als praktischer Schutz, und Christopher brach es mit einem Tritt gegen die Tür auf.
Der alte Mann saß mit gekreuzten Beinen vor einem kleinen Altar, Christopher den Rücken zugewandt, die gebeugte Gestalt umspielt vom Licht zahlloser Butterlämpchen. Er ließ nicht erkennen, dass er Christophers Geräusch an der Tür gehört hatte. Er wandte nicht den Kopf und sagte nichts, sondern fuhr in seiner Andacht fort. Christopher blieb an der Tür stehen, plötzlich gehemmt und verlegen, weil er ins Allerheiligste des alten Mannes eingedrungen war. Der murmelte lautlos und selbstvergessen vor sich hin. Christopher hätte Tsarong Rinpoche sein können, der gekommen war, um ihn endlich zu töten. Aber der Abt kümmerte sich nicht darum.
Christopher tat ein paar Schritte in den Raum. Wieder blieb er stehen, lausche dem Gebet seines Vaters, unsicher, ob er ihn stören durfte. Plötzlich ging ihm auf, was der alte Mann da vor sich hin murmelte:
Nunc dimittis servum tuum Domine …
»Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben den Heiland gesehen, den du vor allen Völkern bereitet hast
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