Der neunte Buddha - Thriller
…«
Es war der Lobgesang des Simeon, des alten Mannes, der Gott bittet, in Frieden die Welt verlassen zu dürfen, nachdem er das Christuskind als den ersehnten Messias erkannt hat. Christopher stand still und lauschte den Worten, die er so gut kannte. Er fragte sich, ob es vielleicht nur ein Traum sei, der ihn von jenem verhängnisvollen Abend nach der Weihnachtsmesse trennte.
Endlich war die Andacht des Abts zu Ende. Christopher trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Vater«, sagte er. Es war das erste Mal, dass er den alten Mann so nannte. »Es ist Zeit für uns zu gehen.«
Der Abt schaute auf wie einer, der schon lange darauf gewartet hatte, dass ihn jemand ansprach.
»Christopher«, sagte er. »Ich habe gehofft, dass du kommst. Hast du deinen Sohn gesehen?«
Christopher nickte.
»Ja.«
»Geht es ihm gut? Ist er sicher?«
»Ja, Vater. Er ist es.«
»Und der andere Junge, Dorje Samdup Rinpoche, ist auch er in Sicherheit?«
»Ja. Ich habe beide über den Pass gebracht. Chindamani ist bei ihnen. Sie warten auf dich.«
Der alte Mann lächelte.
»Ich bin froh, dass sie entkommen sind. Auch du musst fort und ihnen helfen, diesen Ort zu verlassen.
»Nicht ohne dich, Vater. Ich bin gekommen, dich zu holen.«
Der Abt schüttelte den Kopf. Das Lächeln verschwand von seinen Lippen, und er blickte tiefernst drein.
»Nein«, sagte er. »Ich kann dieses Kloster nicht verlassen. Ich bin der Abt. Was Tsarong Rinpoche auch denken mag, ich bin immer noch der Abt von Dorje-la.«
»Tsarong Rinpoche ist tot, Vater. Du kannst Abt bleiben. Aber zur Zeit ist es besser, wenn du von hier fortgehst. Nur für eine bestimmte Zeit, bis du sicher zurückkehren kannst.«
Sein Vater schüttelte erneut den Kopf, diesmal blickte er noch trauriger drein.
»Es tut mir leid zu hören, was du über Tsarong Rinpoche gesagt hast. Er war ein sehr unglücklicher Mann. Und nun muss er den Gang durch die Inkarnationen von vorn beginnen. Das bedrückt mich sehr. Es ist Zeit, dass ich diesen Körper bei den anderen zur Ruhe bette, Christopher. Dass ich wiedergeboren werde.«
»Du bist wiedergeboren worden«, sagte Christopher leise. »Als du mir eröffnet hast, dass du mein Vater bist, war das wie eine Wiedergeburt für mich. Das Gleiche habe ich heute Abend noch einmal erlebt. Tsarong Rinpoche hatte mir gesagt, du seiest tot, und ich habe ihm geglaubt. Als ich hier eintrat und dich im Gebet antraf, bist du für mich ein zweites Mal wiedergeboren worden.«
Der alte Mann ergriff Christophers Hand.
»Weißt du, was ich da gerade gebetet habe?«, fragte er.
»Ja, den Lobgesang des Simeon.«
»Er wusste, wann es Zeit war, einen Schlussstrich zu ziehen. Er hatte gesehen, worauf er sein Leben lang gewartet hatte. Mir geht es ebenso. Zwinge mich nicht, mit euch zu kommen. Mein Platz ist hier bei diesen Grabstätten. Du hast ein anderes Schicksal. Verschwende hier nicht deine Zeit. Die Jungen brauchen deinen Schutz. Chindamani ebenfalls. Und, so glaube ich, deine Liebe auch. Hab nicht zu viel Angst vor ihr. Sie ist nicht immer eine Göttin.«
Auf Christophers Arm gestützt, stand der alte Mann langsam auf.
»Lebt der Russe noch?«, fragte er.
»Ich weiß nicht. Aber ich denke schon.«
»Dann wird es erst recht Zeit, dass du dich auf den Weg machst. Politik interessiert mich nicht. Bolschewiken, Tories, Liberale – für mich sind sie alle gleich. Aber der Junge muss geschützt werden. Achte darauf, dass ihm nichts geschieht. Und deinem Sohn auch nicht. Es tut mir leid, dass ich ihn hierherbringen ließ, dass ich dir so großen Kummer bereitet habe. Aber glaube mir, ich habe es für das Beste gehalten.«
Christopher drückte die Hand seines Vaters.
»Bist du ganz sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, fragte er.
»Ganz sicher.«
Christopher schwieg.
»Bist du hier glücklich?«, fragte er nach einer Weile.
»Ich habe meinen Frieden gefunden, Christopher. Das ist wichtiger als Glück. Du wirst es eines Tages auch begreifen. Jetzt aber musst du gehen.«
Widerwillig gab Christopher die Hand des Vaters frei.
»Leb wohl«, flüsterte er.
»Leb wohl, Christopher. Pass auf dich auf.«
Draußen bahnte sich fahles Morgenlicht seinen Weg. Die Sterne verblassten einer nach dem anderen, und die zerklüfteten Silhouetten der Berggipfel zeigten sich wieder vor einem grauen Himmel. Weit oben flog ein Geier in Richtung Dorje-la Gompa. Seine großen Flügel, die ihn vorwärtstrugen, warfen einen Schatten auf den
Weitere Kostenlose Bücher