Der neunte Buddha - Thriller
Du könntest hierbleiben. Dir würde es nie langweilig werden.« Und alt würdest du auch nicht, dachte er bei sich.
Der Junge wagte sich ein wenig näher heran.
»Wie heißt du?«, fragte er den Jungen.
»Sie sagen mir, ich werde jetzt Jebtsundamba Hutuktu genannt werden. Aber ich kann das kaum aussprechen.«
Er zog seine Hand zurück. Wie pervers, die eigene Wange zu streicheln! Er fühlte, dass seine Hand kalt und leer war.
»Hast du noch einen anderen Namen? Einen tibetischen?«
»Dorje Samdup Rinpoche.«
»Dorje Samdup Rinpoche? Als ich vor vielen Jahren hierher gebracht wurde, hieß ich Losang Shedup Tenpi Donme. Der Name ist lang, nicht wahr? Damals war ich zehn Jahre alt. Wie alt bist du, Samdup?«
»Zehn.«
Ihm blieb fast das Herz stehen. Vielleicht traf es ja zu. Vielleicht war er in gewisser Weise wirklich bereits tot und wiedergeboren worden, während er auf andere Weise noch lebte.
»Wer ist das andere Kind, das mit dir gekommen ist? Ich habe seine Schritte gehört.«
»Er ist ein Pee-ling , antwortete der Junge. »Er heißt Willyam. Sein Großvater ist der Abt von Dorje-la. Einer der Männer hier ist sein Vater.«
»Sein Vater ist ein Bolschewik?«
»Nein. Die haben ihn gefangen genommen. Er ist gestern Abend gekommen, um Will-yam und mich zu retten.«
»Und wer ist die Frau, mit der du gesprochen hast?«
»Sie heißt Chindamani. Sie war mit mir in Dorje-la Gompa, wo ich gelebt habe.«
»War sie deine Dienerin?«
»Nein«, sagte der Junge. »Sie ist die Verkörperung der Göttin Tara in Dorje-la. Und meine beste Freundin.«
Wieder streckte er seine blinde Hand aus. Der Junge hatte langes Haar, von dessen Berührung seine Finger erbebten.
»Glaubst du, sie spricht mit mir?«, fragte er.
Der Junge verstummte. Dann antwortete eine Frauenstimme ganz nah. Sie hatte neben dem Jungen gestanden.
»Ja«, sagte sie. »Was möchten Sie mir sagen?«
»Ich möchte Ihren Rat«, sagte er.
»Meinen Rat? Oder den der Göttin Tara?«
»Die Hilfe der Göttin Tara«, sagte er. »Ich möchte wissen, was ich tun soll. Soll ich diese Papiere unterschreiben? Was ist richtig, was falsch?«
Sie antwortete nicht sofort.
»Ich denke«, sagte sie schließlich, »Göttin Tara würde Ihnen empfehlen, nicht zu unterschreiben. Sie sind immer noch der Hutuktu. Nicht diese Leute haben zu entscheiden, wer eine Inkarnation ist und wer nicht.«
»Glauben Sie, dass ich eine Inkarnation bin?«
»Nein«, antwortete sie.
»War ich jemals eine?«
»Vielleicht«, sagte sie. »Bevor das Kind geboren wurde.«
»Was raten Sie mir also?«
Sie schwieg.
»Ich kann Ihnen keinen Rat geben. Ich bin nur eine Frau.«
Er zuckte die Schultern.
»Und ich bin nur ein Mann. Das haben Sie selbst gesagt. Raten Sie mir also. Von Mensch zu Mensch.«
Mit ihrer Antwort nahm sie sich Zeit. Als sie dann schließlich sprach, war ihre Stimme matt vor Niedergeschlagenheit.
»Sie müssen diese Papiere unterzeichnen. Sie haben keine Wahl. Wenn Sie es nicht tun, wird man Sie töten. Diese Leutehaben den Jungen in ihrer Gewalt. Sie haben alles, was sie brauchen.«
Darauf sagte er nichts mehr. Sie hatte wohl recht. Man würde ihn töten, und was wäre damit erreicht? Er wandte sich wieder dem Burjaten zu.
»Sind Sie noch da, Sa-abughai?«, fragte er. Er meinte Samjatin.
»Ja. Ich warte auf Ihre Entscheidung.«
»Gut«, sagte er. »Geben Sie mir meinen Füllfederhalter. Ich werde Ihre Papiere unterzeichnen. Dann können Sie gehen.«
59
Christopher fragte sich, wann dieser Alptraum wohl ein Ende hätte. Tsering hatten sie gleich erschossen, als sie in die Jurte eindrangen. Dann wurden er und Chindamani gefesselt und zusammen mit William und Samdup weggebracht. Sie mussten lange warten, bis Samjatin seine Männer für den Coup gegen den Palast des Hutuktu bereithatte. Irgendwie war es Christopher gelungen, sich in Williams Nähe zu schieben, mit ihm zu sprechen, ihn aufzumuntern und ihm zu sagen, dass dieses Martyrium bald zu Ende gehen werde. Etwa eine Stunde, nachdem Samjatin sie entdeckt hatte, brachen sie auf.
Er erinnerte sich an ein Gewirr krummer Gassen und Straßen, in denen es nach Kot und Fäulnis roch, an Hände, die ihn festhielten, kniffen und stießen, an Stimmen, die in der Nacht flüsterten und wimmerten, an eine Dunkelheit, die ganz materiell wirkte, wenn Gesichter aus ihr auftauchten und wieder verschwanden.
Dann war der Mond hinter den Wolken hervorgetreten, rot und fleckig an einem trüben Himmel, und aus den Gassen
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