Der neunte Buddha - Thriller
vor etwas Angst.
»Samjatin hat mich umgestimmt«, sagte er schließlich. »Als er hierherkam, kannte er die Prophezeiung bereits. Er wusste auch von mir: wer ich war und woher ich stammte. Er erklärte mir, wenn ich einen Enkel hätte, dann könnte er es arrangieren, dass er hierhergebracht werde. Ich habe lange mit ihm gestritten, aber am Ende hat er mich überzeugt. Ich brauche den Jungen. Jemand muss die Linie fortsetzen.«
»Konntest du nicht auf die hier übliche Weise eine neue Inkarnation finden? Hier in Tibet? Einen kleinen Buddhisten, dessen Eltern über diese Wahl glücklich gewesen wären?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Das hätte der Prophezeiung widersprochen. In den Jahren, als mein Vorgänger gestorben und ich noch nicht hier angekommen war, gab es einen Regenten. Anstelle des Abtes regierte ein Mann namens TensingRinpoche. Als man mich hierherbrachte, war er zuerst gegen meine Wahl. Zwei Jahre später starb er, aber ein Teil der Mönche hat immer ihn als die wahre Inkarnation angesehen.
Als junger Mann hat er einer anderen Sekte angehört, wo die Mönche nicht im Zölibat leben müssen. Er hat einen Sohn. Der ist jetzt hier im Kloster ein wichtiger Mann. Er heißt Tsarong Rinpoche. Wenn ich ohne Nachfolger sterbe, könnten viele Mönche akzeptieren, dass Tsarong Rinpoche dieses Amt übernimmt. Es gibt genügend, die ihm folgen würden. Und ich brauche dir nicht zu sagen, was es bedeutet, wenn er sich selbst zum Abt ausruft.«
»Wieso schaffst du ihn dir dann nicht vom Halse?«
»Das kann ich nicht. Er ist der Sohn von Tensing Rinpoche. Glaube mir, ich kann ihn nicht einfach von hier vertreiben.«
»Warum hat Samjatin dir seine Hilfe angeboten? Was hat er davon?«
Der Abt schwankte. Hinter ihm flackerte ein Lämpchen in einem Luftzug.
»Als er nach Tibet kam, suchte er etwas. Das befand sich hier in Dorje-la. Er schloss einen Deal mit mir: Mein Enkel gegen das, was er wollte. Zuerst habe ich abgelehnt, aber am Ende hatte ich keine andere Wahl. Ich habe sein Angebot akzeptiert.«
»Was wollte er hier finden?«
»Bitte, Christopher, das kann ich nicht sagen. Nicht jetzt. Vielleicht später, wenn du ein wenig länger hier bist.«
»Und William – werde ich ihn sehen dürfen?«
»Du musst Geduld haben, Christopher. Du wirst ihn sehen, wenn es an der Zeit ist. Doch du musst begreifen, dass ich dir nicht gestatten kann, ihn mitzunehmen. Damit musst du dich abfinden. Ich weiß, das ist schwer für dich, aber ich kann dich lehren, wie es zu ertragen ist. Du kannst in Dorje-la bleiben,solange du willst. Ich möchte gern, dass du bleibst. Doch du kannst nicht mit deinem Sohn zusammen fortgehen. Er gehört jetzt uns.«
Christopher sagte nichts. Er trat ans Fenster und zog den Vorhang auf. Draußen war die Sonne bereits untergegangen, und Dunkelheit lag über den Bergen. Er konnte das Messer in seinem Stiefel spüren, das harte Metall, das gegen seine Haut drückte. Es wäre so leicht, seinem Vater die Waffe an die Kehle zu setzen und ihn zu zwingen, William herauszugeben. Niemand würde es wagen, ihn aufzuhalten, solange der Abt seine Geisel war. Er fragte sich, warum er es nicht fertigbrachte, das zu tun.
»Ich möchte jetzt zu meiner Unterkunft zurück«, sagte er.
Sein Vater erhob sich und ging mit ihm zur Tür.
»Dorthin kannst du nicht mehr. Samjatin hat einmal versucht, dich zu töten. Beim zweiten Mal wird er keinen Fehler machen. Ich werde anweisen, dass du auf diesem Stockwerk in meiner Nähe wohnst.« Er schaute in den düsteren Nebenraum. »Es ist schon dunkel. Ich muss meinen Pflichten nachgehen. Warte hier. Ich schicke jemanden, der dir dein neues Zimmer zeigt.«
Der Abt wandte sich um und ging in den kleinen Raum zurück. Christopher sah ihm nach, wie er gebückt und mit weißem Haar hinter der Tür verschwand. Sein Vater war von den Toten auferstanden. Es war wie ein Wunder. Aber um William von diesem Ort fortzubringen, war er bereit, das Wunder ungeschehen zu machen und seinen Vater zu den Toten zurückzuschicken.
28
Der Raum, in den man Christopher jetzt führte, war größer als die Zelle, in der er vorher gewohnt hatte. Er war quadratischund mit kostbaren Möbeln ausgestattet. Die hohen Wände trugen farbige Kacheln, die aus dem fernen Persien stammten. Pfaue stolzierten umher, und dunkeläugige Mädchen warfen verführerische Blicke über Schalen voller Wein. Die Silhouetten von Nachtigallen und Wiedehopfen zeichneten feine Muster wie
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