Der neunte Buddha - Thriller
Ganges führte. An Haken neben der Leiter hingen mehrere schwere Schaffellmäntel.
»Ziehen Sie einen an«, befahl Chindamani und hielt Christopher eine solche Chuba hin.
»Gehen wir hinaus?«
Sie nickte.
»Ja. Sie werden schon sehen.«
Sie selbst schlüpfte in eine Chuba, die viel zu groß für sie war, schlug die Kapuze hoch, wandte sich ohne ein Wort um und begann, geschickt die Leiter hinaufzuklettern. Oben angekommen, öffnete sie die Luke mit einem Arm. Es war, als wäre die Tür zu einem Malstrom aufgegangen. Ein eisiger Wind fuhr herunter wie der Atemhauch aus einer Hölle des Nordens. Chindamanis Lampe erlosch sofort. Nun standen sie in völliger Finsternis. Christopher kletterte ihr hinterher.
»Bleiben Sie dicht hinter mir!«, rief sie.
Der Wind fuhr ihr so scharf ins Gesicht, dass er sie beinahe von der Leiter geworfen hätte. Sie kroch auf das flache Dach hinaus und beugte sich tief hinunter, damit der Wind sie nicht erfassen und fortreißen konnte. Die Dunkelheit wurde zu einer Masse unverständlicher Geräusche. Sie wirkten wie das Geheul und Gewimmer verlorener Seelen in einer Wüste des Schmerzes.
Christopher kletterte nach ihr hinaus und konnte die Luke nur unter größter Anstrengung wieder schließen. Er tastete nach ihr und fand sie in der Dunkelheit. Sie nahm seine Hand und hielt sie mit kalten, zitternden Fingern.
Als sich seine Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Christopher vage Umrisse erkennen – goldene Kuppeln und Turmspitzen, Gebetsmühlen und vergoldete Statuen, die er am Tag seiner Ankunft in Dorje-la aus der Ferne gesehen hatte. Chindamani kannte den Weg über das Dach aus langer Erfahrung. Gemeinsam kämpften sie sich durch den Sturm bis zum Rand. Chindamani zog Christopher dicht zu sich heran und legte ihre Lippen an sein Ohr: »Jetzt kommt der schwierigste Teil«, sagte sie.
Er fragte sich, wo der leichtere gewesen war.
»Was muss ich tun?«, fragte er.
»Vor uns ist eine Brücke«, rief sie. »Sie führt von diesemDach auf eine andere Plattform des Felsens. Es ist nicht weit.«
Christopher versuchte in der Dunkelheit über den Dachrand zu lugen.
»Ich sehe nichts!«, schrie er. Seine Lippen berührten ihr Haar, und er hätte sie am liebsten geküsst. Hier in der Dunkelheit, mitten im Sturm.
»Sie ist direkt vor uns«, rief sie zurück. »Glauben Sie mir. Aber bei diesem Wind müssen wir auf allen vieren kriechen. Sie hat kein Geländer. Nichts, woran man sich festhalten kann.«
»Wie breit ist sie?« Das war wohl keine gute Frage.
»So breit, wie Sie wollen, fünfzehn Kilometer breit. So breit wie ganz Tibet. Oder wie die Hand unseres Gottes Chenrezi. Sie werden nicht herunterfallen.«
Er blickte in der Dunkelheit zu ihr hin. Er wünschte, er hätte ihr Selbstvertrauen.
»Seien Sie da nicht so sicher«, sagte er.
Sie ließ seine Hand los und sank auf die Knie nieder. Er konnte gerade noch ihre Umrisse erkennen – eine kleine dunkle Gestalt, die vor ihm in die schwarze Nacht kroch.
Er folgte ihr. In der Chuba fühlte er sich plump und unförmig – ein gutes Ziel für den Wind, ihn zu packen und hinabzustürzen. Er sorgte sich um Chindamani, deren zierliche Gestalt ihm viel zu leicht für die schweren Böen erschien. Die mussten sie wie ein Blatt von der Brücke fegen.
Die Dunkelheit verschluckte sie, und er kroch vorwärts in die Richtung, in der sie verschwunden war. Jetzt sah er die ersten Zentimeter eines steinernen Steges, der vom Dach abging. Er hatte gefragt, wie breit er sei, aber nicht, wie lang. Soweit er es beurteilen konnte, war er keinen Meter breit, und die Oberfläche schien ihm glatt wie Eis. Was darunterlag, daran wollte er lieber nicht denken.
Sein Herz schlug heftig. Mit angehaltenem Atem bewegte er sich auf den Steg hinaus. Er umklammerte die Seiten mit seinen Händen und hielt die Knie dicht beisammen, inständig betend, der Wind möge ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Er spürte, wie trotz der frostigen Luft dicke Schweißperlen auf Stirn und Wangen hervortraten. Die Chuba war ihm ständig im Weg, wickelte sich um seine Beine und hinderte ihn am Kriechen. Chindamani konnte er nicht mehr sehen. Um ihn herum war nur Wind und Dunkelheit, eine Dunkelheit, die nicht enden wollte, ein Wind, der ihm blind und wild entgegenblies.
Er löste jeweils nur ein Glied vom Boden: Erst die linke Hand, dann die rechte, danach das linke Bein und schließlich das rechte. So schob er sich langsam vorwärts, überzeugt, dass er
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