Der neunte Buddha - Thriller
war.
»Wer sind Sie?«, flüsterte Christopher noch einmal. Die Angst war jetzt ein lebendiges Wesen, das in ihm arbeitete und in seiner Brust raste wie ein gefangenes Tier, ein Vogel oder ein Schmetterling.
»Kennst du mich nicht mehr, Christopher?« Die Stimme des Abts war jetzt sanft und leise. Zunächst fiel Christopher gar nicht auf, dass er diese Worte nicht auf Tibetisch, sondern auf Englisch gesagt hatte.
Die Welt fiel in Stücke.
»Erinnerst …«
Die Stücke zerbröselten zu Staub.
»… du dich … nicht mehr …?«
Ein Sturm erhob sich in Christophers Kopf. Er hörte die Stimme seiner Mutter nach im rufen: »… Christopher!«
Und die Stimme seiner Schwester, die ihm an langen Sommertagen über den sonnenbeschienenen Rasen nachlief: »… Christopher!«
Und Elizabeth, die ihre Arme nach ihm ausstreckte und in Todesqual mit schmerzgeweiteten Augen wisperte: »… Christopher.«
Und am Ende die Stimme seines Vaters: »… Christopher? Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Christopher?«
27
Vor dem letzten Chörten standen sie beieinander. Christophers Vater hatte die Fensterläden geöffnet, so dass sie auf den Pass blicken konnten. Lange sagte keiner ein Wort. Die Sonne war weitergezogen und zeichnete nun Muster von Licht und Schatten auf blasse, ferne Gipfel und in verschneite Schluchten. Nur die Schatten bewegten sich. Die Welt schien schweigend stillzustehen.
»Das ist der Everest«, sagte der alte Mann dann und zeigte nach Südwesten, wie ein Vater seinem Kind etwas zeigt. »Die Tibeter nennen ihn Tschomolungma, die Göttinmutter der Erde.« Er wartete, bis Christopher den Gipfel ausgemacht hatte, auf den er deutete. Aus den Wolkenfetzen schaute nur die oberste Spitze des riesigen Berges hervor, der aus der Entfernung klein wirkte.
»Und das ist der Makalu«, fuhr er fort und wies etwas weiter nach Süden. »Den Chamlang, den Lhotse – sie alle kann man bei klarem Wetter sehen. Manchmal stehe ich stundenlang hier und betrachte sie. Ich werde niemals müde, diesen Blick zu genießen. Niemals. Ich erinnere mich noch daran, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe.« Er verstummte wieder, in Gedanken an die Vergangenheit versunken.
Christopher erschauerte.
»Ist dir kalt?«, fragte der Vater.
Er nickte, und der alte Mann schloss den Laden. Sie waren wieder in der Chörten -Halle eingeschlossen.
»Dieser war mein letzter Körper«, sagte Christophers Vater und fuhr mit der Hand über das polierte Metall des Grabmals.
»Ich verstehe nicht«, sagte Christopher. Würden zwei mal zwei je wieder vier ergeben und Schwarz und Weiß je wieder Grau?
»So viel verstehst du natürlich«, widersprach sein Vater. »Dass wir Körper annehmen und wieder ablegen. Ich habe viele Körper gehabt. Bald werde ich auch diesen los sein. Und dann wird es Zeit, einen anderen zu finden.«
»Aber du bist mein Vater!«, protestierte Christopher. »Du bist vor Jahren gestorben. Das alles ist doch gar nicht möglich!«
»Was ist möglich, Christopher? Was unmöglich? Kannst du es mir sagen? Hand aufs Herz, kannst du sagen, du weißt es?«
»Ich weiß, dass du mein Vater bist, der Mann, den ich als Kind gekannt habe. Du kannst keine … Reinkarnation eines tibetischen Heiligen sein. Du bist in England geboren, in Grantchester. Du hast meine Mutter geheiratet. Du hast einen Sohn und eine Tochter. Das ergibt doch alles keinen Sinn.«
Der alte Mann nahm Christophers rechte Hand und hielt sie fest in der seinen.
»Ach, Christopher«, sagte er, »wenn ich es nur erklären könnte. Wir sind uns fremd geworden, du und ich, aber glaube mir, ich habe dich nie vergessen. Es ist niemals mein Wunsch gewesen, dich allein zu lassen. Glaubst du mir das?«
»Ich weiß nicht, was dein Wunsch gewesen ist. Ich weiß nur, was geschehen ist. Was man mir darüber gesagt hat.«
»Was haben sie dir gesagt?«
»Dass du verschwunden bist. Dass du eines Nachts das Lager verlassen hast und man dich nicht mehr wiederfinden konnte. Als eine gewisse Zeit vergangen war, hat man angenommen, du seist tot. Ist das richtig? Ist es so gewesen?«
Der alte Mann ließ Christophers Hand los und rückte ein wenig von ihm ab.
»In gewisser Hinsicht«, sagte er mit leiser Stimme. Er wirkte klein vor den Grabmalen seiner Vorgänger. Auf seinem faltigen Gesicht lag wieder diese große Traurigkeit.
»Es ist wahr, aber nur in einer gewissen Hinsicht – wie die meisten Dinge auf dieser Welt. Die tiefere Wahrheit, die sie nicht erraten und dir nicht
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