Der neunte Ton: Gedanken eines Getriebenen (German Edition)
erleben wir es unmittelbar mit unseren wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Europa. Letztendlich geht es manchen nicht mehr darum, gemeinsam Probleme zu lösen, sondern viele interessiert nur noch die Frage: Wie kommt man am besten selbst aus der Talsohle raus, ohne Rücksicht auf den anderen. Das eigentliche Problem ist, dass die Menschen in unseren Gesellschaften zunehmend egoistisch und selbstverliebt werden. Leider ist auch dies eine Folge der Globalisierung. Wir können Missstände heute sofort öffentlich an den Pranger stellen. Technisch stehen uns die Mittel zur Verfügung, das ist kein Problem. Aber mit der zunehmenden Entwicklung in diesem Bereich ist leider auch die Gleichgültigkeit gewachsen. Die Gefahr, abzustumpfen, zur Tagesordnung überzugehen, ist die Folge.
Bild 7.: Der Tabaluga-Drache aus Holz auf dem Gelände der Finca Ca’n Llompart. Ursprünglich für ein Musikalbum entworfen, steht der Drache mittlerweile für das Engagement der Peter Maffay Stiftung.
Einer meiner besten Freunde ist Tony Carey. Ein »Wilder«, ein großartiger Musiker. Er pflegte immer, wenn wir mit schlotternden Hosen auf die Bühne gingen, zu sagen: »We are not here to lose!« Es war seine Art, sich das Lampenfieber wegzureden. Eine klare Botschaft. Auf unser tägliches Leben übertragen heißt das für mich: Wir sind hier, um unseren Beitrag zu leisten, die Gesellschaft lebenswerter zu machen. Und wenn wir ausgestattet sind mit gewissen Optionen, gewissen Talenten, dann muss man diese Chance auch wahrnehmen. Natürlich zahlt man für diese außergewöhnlich schöne und wertvolle Möglichkeit einen Preis. Aber ein Familienvater in Bangladesch, der zehn Kinder hat und sie Tag für Tag ernähren muss, ist einem ganz anderen Druck ausgesetzt. Ich ertappe mich manchmal beim Jammern, dass ich siebenmal in der Woche nur vier Stunden geschlafen und irgendwann auch mal die Schnauze voll habe. Dann will ich mich zurücknehmen, Zeit für Familie und Freunde haben. Allerdings relativiert sich mein Weltbild schnell, wenn ich feststelle: Aus dem Wasserhahn in meinem Bad fließt warmes Wasser, wenn ich es will, und es gibt genug zu essen – jeden Tag.
Vor einigen Jahren hatten wir eine Gruppe von Kindern auf Mallorca zu Gast. Gelegentlich steht uns die Sir Robert Baden Powell zur Verfügung, ein 1957 erbautes Segelschiff, das Platz für knapp 20 Personen bietet. Es gibt kaum etwas Schöneres, als mit Kindern aufs Meer hinauszufahren. Diese endlose Freiheit, die salzige Luft und dieses Gefühl, dass man wirklich alle Sorgen über Bord werfen kann. Und gerade die jungen Passagiere, mit denen ich unterwegs war – es waren Kinder mit körperlichen und seelischen Defiziten –, brauchten dieses Gefühl. Eines Tages habe ich mich, gerade von Konzerten aus Deutschland zurückgekehrt, überreden lassen, einige Tage mit einer Kindergruppe auf dem Meer zu verbringen.
Eine Begleiterin erzählte mir, dass unter den Kindern ein kleiner Junge sei, der seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Eine Folge von schweren seelischen Verletzungen. Er hatte sich aus der Gesellschaft »verabschiedet« und wollte sie möglicherweise mit seinem Schweigen bestrafen. Für das, was sie ihm angetan, für den Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte. Karsten, der Captain, bot dem Kleinen an, das Ruder zu übernehmen, um einmal zu erfahren, wie sich das anfühlt. Nach einer gewissen Zeit, es herrschte wenig Wind, fiel das Schiff vom Kurs ab, und Karsten sagte zu dem Jungen: »Du musst das Ruder nach Backbord drehen.« Ohne zu wissen, dass damit links gemeint ist, tat der Junge genau dieses und fragte, für alle deutlich vernehmbar: »So?« Dieses kleine Wort – uns standen die Haare zu Berge – war das erste nach Jahren des Schweigens. Er hatte es gebrochen, sich geöffnet. Was für ein Geschenk für alle!
Bild 8.: Das Logo des New Yorker Malers James Rizzi für das Projekt »Begegnungen – Schutzräume für Kinder«
Begegnungen
Freunde und Weggefährten
Begegnungen erzeugen Bewegung. Das große Glück meiner Lebensreise sind Begegnungen – nicht nur privat, sondern auch im Musikalischen. Es ist ein Privileg, vor Menschen auftreten zu dürfen und ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Über die reine Unterhaltung hinaus, die für sich natürlich völlig legitim ist, ist Musik immer auch Dialog.
Meine Band lebt über die ganze Welt verteilt – Carl teilweise in Amerika und auf Gozo, Pascal auf Gozo und Mallorca, Jean-Jacques und Peter Keller in Hamburg, Bertram
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