Der neunte Ton: Gedanken eines Getriebenen (German Edition)
Freiheit, die ich meine
Über die Kindheit in Rumänien und mein Elternhaus
Mein erster Schutzraum war mein Elternhaus, genau genommen waren es meine Mutter und mein Vater. Der Großteil meiner Familienangehörigen war während des Zweiten Weltkriegs emigriert. Nur wenige sind in Rumänien geblieben. Die Familie war also in alle Winde zerstreut – in den USA, in Kanada, sogar in Australien. Die Zurückgebliebenen rückten näher zusammen und schütz ten sich gegenseitig. Dieses Zusammenrücken war sozusagen eine Verdichtung, die der Familie Halt gab, sie sta bilisierte und unheimlich gut tat – überlebenswichtig war.
Ich stamme aus Transsilvanien. Die Kultur dort ist seit fast 800 Jahren von den Siebenbürger Sachsen geprägt. Sie haben Erhebliches dazu beigetragen, dass diese Landschaft blüht und große Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Beispielsweise sind einige Gesetze, die hier entstanden sind, ausgesprochen fortschrittlich im Vergleich zu anderen Gesellschaftssystemen auf der Welt. Unter anderem ist dies dem Zusammenspiel zwischen der ungarischen und der rumänischen Gesellschaft und anderen Ethnien zu verdanken. Die siebenbürgischen Einflüsse insgesamt haben die dortige Landschaft, das spätere Rumänien, über lange Strecken extrem positiv beeinflusst. Es haben schon früher Verschmelzungen dieser Art stattgefunden, wenn auch nicht so stark wie heute in Zeiten der Globalisierung.
Mein Elternhaus war geprägt durch klare Wertevorstellungen. Meine Mutter zum Beispiel hat meine Großmutter väterlicherseits noch gesiezt – ein Zeichen von Respekt. Auch wenn einem dies heute merkwürdig überholt oder gar lächerlich erscheint, in diesem Kulturkreis und zu dieser Zeit wurden solche Umgangsformen aufrechterhalten. Tradition kann auch ein Bollwerk sein, eine Möglichkeit, sich zu orientieren. Das alles ist Teil einer Art Wertekette. Reich war zu dem Zeitpunkt niemand, höchstens an Erfahrung. Als ich auf die Welt kam, gab es eigentlich nur Armut. Meine Mutter war Hausfrau. Später arbeitete sie Teilzeit in der Fabrik. Mein Vater hatte einen Jagdschein und einmal im Jahr brachte er einen Rehbock nach Hause. Von dem aß dann die ganze Straße. So dachte und handelte man damals dort, wo ich herkam. Wurde irgendwo ein Schwein geschlachtet, bekam jeder in der Straße ein Stück Fleisch. Die eigentliche Währung auf der Straße war der Tausch. Man konnte für Zucker, Öl und Brot andere Dinge tauschen. In den Geschäften gab es nur ein sehr eingeschränktes Produktsortiment: Man musste kaufen, was da war. Einen Tag gab es Marmelade, dann hat man Marmelade gekauft, am nächsten Tag gab es Seife, dann hat man eben Seife mitgenommen. Diese Form des Zusammenlebens – tauschen und damit überleben – schuf eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig beschützte. Man war voneinander abhängig und schätzte diese Abhängigkeit, weil das Überleben so unter den herrschenden Bedingungen erträglicher wurde.
Aber man passte auch aufeinander auf. Wenn ein Spitzel der Regierung auftauchte – und jedem war eigentlich klar, wer ein Spitzel war –, dann wusste man: Achtung, Klappe halten! Mein Vater war immer gefährdet. Wenn er einmal anfing über das politische System zu reden, dann ließ er sich ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr bremsen.
Er hat immer seine Meinung gesagt, seine Rechte eingefordert und das hat natürlich dem totalitären Regime in Rumänien nicht gepasst. Dafür bekam er die Quittung. Quittung, das hieß in diesem Fall Arrest, auch Folter. Mein Vater ist mein großes Vorbild. Er ist in meinen Augen – und ich verwende diesen Begriff wirklich selten – ein Held; jemand, der sich gegen ein Regime gestellt und diesem die Stirn geboten hat. Mit dem Begriff »Stolz« kann ich in der Regel wenig anfangen, aber auf meinen Vater bin ich stolz und ich bin stolz auf mein Elternhaus. Vor allem aber bin ich stolz darauf, dass sie ihn nicht gebrochen haben, all die Schikanen durch den Staat haben ihn nicht einknicken lassen. Mein Vater hat nie über die Folter gesprochen, aber ich gehe mal davon aus, dass sie ihn nicht »gestreichelt« haben. Zum ersten Mal habe ich bewusst mitbekommen, dass er vom Geheimdienst abgeholt wurde, als ich elf oder zwölf Jahre alt war. Mutter sagte mir, dass er nun für eine gewisse Zeit weg sei und dann wiederkommen würde – wahrscheinlich wiederkommen würde. Niemand wusste, was in der Zwischenzeit geschah. Es gab keine ordentliche Justiz, die sich solcher Fälle
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