Der Nobelpreis
Ehrengäste nehmen am Ehrentisch Platz, der in der Mitte steht, quer zu den anderen, und etwas breiter und großzügiger gedeckt ist als diese. Rund 90 Gäste sitzen hier – neben den Mitgliedern der königlichen Familie die Preisträger, Vertreter der Regierung und der Nobelstiftung – und genießen eine Platzbreite von 70 Zentimetern, während an den anderen Tischen nur 60 Zentimeter vorgesehen sind, weil ansonsten die zwischen 1300 und 1400 Gäste nicht unterzubringen wären. Es mag das erlauchteste Bankett der Welt sein, das behaglichste ist es ganz sicher nicht.
Da der Blaue Saal nicht symmetrisch ist, sondern sich zu einer Seite hin verjüngt, können die Tische nicht so parallel zueinander stehen, wie sie sollten, und da auch die Prachttreppe nicht exakt in die Mitte des Raumes führt, ist das Aufstellen der Tische und Stühle ein kompliziertes Puzzle. Eine Mitarbeiterin der Nobelstiftung war in den vergangenen Wochen mit nichts anderem beschäftigt als damit, die Sitzordnung auszutüfteln, was sich bei weitem nicht darauf beschränkt, neben jeden Herrn eine Dame zu setzen. Jeder geladene Gast durfte auf einem eigens dafür vorgesehenen Formular Wünsche hinsichtlich seiner Platzierung äußern, etwa was die Nähe zu König und Königin oder zu Kollegen anbelangt, und all diesen Anliegen wurde im Rahmen des Machbaren Rechnung getragen.
Die Tische sind prachtvoll geschmückt. Tischschmuck hat eine jahrhundertelange Tradition in Schweden – die entsprechende Abteilung im zweiten Stock des Nordiska Museet gilt als eine der großen Sehenswürdigkeiten Stockholms –, und da das Schwedische Fernsehen ausführlich vom Bankett berichtet, wird die Dekoration in den kommenden Wochen öffentliches Gesprächsthema sein und in vielen Familien zu Weihnachten stilbildend wirken.
Nun ist auch das Geheimnis des Menüs enthüllt. In schlichten Buchstaben steht es auf den Karten gedruckt, die an allen Plätzen ausliegen, geziert von nichts anderem als dem Profil Alfred Nobels in Gold. Trotzdem können die wenigsten Teilnehmer des Banketts etwas mit dem anfangen, was sie da lesen, denn obgleich vornehm auf alle Akzente verzichtet wurde, ist es Französisch, und zwar jenes Französisch der gehobenen Küche, das zu einer eigenen Literaturform geworden ist, einer Literatur der Speisekarten, die versuchen, Gedichte zu sein, und bei deren Lektüre auch gebürtige Franzosen nicht selten Ratlosigkeit befällt.
Die meisten begnügen sich damit zu lesen, dass der Sekt, der ihnen in der ersten Amtshandlung der 210 Kellner kredenzt wurde, ein 1992er Dom Perignon Vintage war, und beschließen, sich im Übrigen einfach überraschen zu lassen. Andere, mit mehr Ehrgeiz, Weitläufigkeit und Französischkenntnissen ausgestattet, enträtseln, dass es als Vorspeise Ziegenkäsetörtchen mit einer Garnitur von roter Beete sowie Jakobsmuscheln und Langoustinen in Trüffelvinaigrette geben wird. Zum Hauptgang folgt Hirschfilet an Zimtsoße mit gegrilltem Herbstgemüse und einem Chutney von Preiselbeeren, dazu Kartoffeln. Das Dessert, Glace Nobel betitelt, als handle es sich um ein Markenzeichen, besteht dieses Jahr aus einem Birnendélice auf Schokoladen-Vanille-Creme nach bayerischer Art, begleitet von Champagner-Birnen-Sorbet.
Aus unerfindlichen Gründen befindet sich die Küche im sechsten Stock. Das Essen wird mit behäbigen Lastenaufzügen nach unten geschickt, im Goldenen Saal auf Teller aufgegeben und von der Schar Weißbejackter, die sich in den ungefähr vier Stunden, die das Bankett dauert, mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von zehn Stundenkilometern bewegen, in unablässigem Einsatz über die große Treppe hinab in den Blauen Saal gebracht. 140 Kellner sind für die Speisen zuständig, 50 für den Wein, 10 stellen die Reserve dar, sind aber dennoch ebenfalls unablässig beschäftigt, und 10 weitere kümmern sich um die Erfüllung besonderer Wünsche. Vegetarier und Allergiker bekommen abweichend vom offiziellen Menü ein eigens für sie zubereitetes Essen. Die Organisatoren haben alles Nötige vorab in Erfahrung gebracht, und egal ob fleischlos, glutenfrei oder koscher, es ist nichts unmöglich.
Vor dem Dessert gibt es eine etwa zwanzigminütige musikalische Darbietung, wobei die Treppe als Bühne fungiert, die zu diesem Zweck meist blau beleuchtet wird, wohl um der Namensgebung des Saals doch noch einen Sinn zu verleihen. Mit dem Verebben des anschließenden Applauses senkt sich Dunkelheit über den Saal. Jeder weiß,
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