Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
grün. Seine Arme wurden wieder zu Stacheln. Dann explodierte er und riss unter sich ein Loch auf, in das der Typ und ich hineinstürzten. Wir landeten in einem Labyrinth aus verspiegelten Scheiben, in denen wir uns in vielfacher Ausführung sehen konnten.
»Geschafft«, sagte der Typ und wirkte erleichtert.
Was geschafft? , fragte ich mich, denn ich sah keine Verbesserung unserer Situation. Wir schienen in diesem Labyrinth gefangen. Immer wieder prallten wir gegen die Scheiben, wobei es wie ein Glockenschlag tönte.
»Die Weltvernichter sind uns auf den Fersen«, sagte der Typ, als würde das alles erklären.
Wieder knallten wir gegen eine Scheibe. Das Vogelgesicht des Typen sah schon ziemlich demoliert aus. Weniger wie ein Vogel, mehr wie ein Hund. Wie ein Mops, vielleicht.
»Und wer bist du?«, fragte ich.
»Ich gehöre zu den Weltrettern.«
Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Wenn ein Weltretter wie ein Mops aussah, wie sah dann erst ein Weltvernichter aus? Mein Gelächter ließ die Scheiben blind werden. Wir spiegelten uns jetzt nicht mehr auf dem Glas. Es waren nun pochende Herzen, die blutig rot gegen die Scheiben hämmerten und sie erzittern ließen.
Aus den unzähligen Gängen des Labyrinths wurden immerweniger, bis nur noch einer übrig war. Wir standen vor einer Tür, auf der ein Spiegelbild prangte. Diesmal war es kein Herz, sondern der Mond. Aus dem Spiegelbild des Mondes kamen Töne, die Worte ergaben und eine Frage bildeten: »Wie viele Astronauten waren 1969 in der Apollo 11?«
Wieder so eine Frage, und wieder gab es drei Antworten zur Auswahl. Das schien ein Prinzip zu sein.
»A. zwei, B. drei, C. vier?«, drang es aus dem Mond. Dann leuchtete er im Takt und zählte dabei die Sekunden rückwärts.
»Zehn, neun, acht …«
Der Weltretter sah jetzt wie ein verprügelter, ahnungsloser Mops aus. Geschichte schien nicht sein Steckenpferd zu sein. Wenn er mit diesem beschränkten Wissen die Welt retten wollte, dann gute Nacht!
Dabei war die Frage doch gar nicht so schwer. Apollo 11 war die erste Mondlandung. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, denn ich war ja dabei gewesen. Die Astronauten waren Armstrong, Aldrin und Collins. Und ich. Aber ich war kein Astronaut, ich war nur … was war ich eigentlich? Egal.
»Drei, zwei …«
»B«, flüsterte ich dem Weltretter zu.
»Eins …«
»B!«
Das war knapp.
Der Mond implodierte, und ein Loch entstand. Wir fielen hindurch und landeten in dunklen Häuserschluchten, mit Wolkenkratzern und Straßen, die völlig leer waren.
»Wir haben die nächste Ebene erreicht«, sagte der Typ, der jetzt sein Mopsaussehen wieder verloren hatte und sein vogelähnliches Gesicht zeigte. Wir irrten durch die Straßen. Eswurde immer kälter. An den Häusern bildeten sich Eiszapfen. Der Typ wurde langsamer, als ginge ihm der Sprit aus. Er sprach auch langsamer, als hätte er Probleme, die Worte aus sich herauszuquetschen. Die Eiszapfen wurden immer größer und bildeten kunstvolle Gebilde, während die Dunkelheit einem sich ausbreitenden Weiß wich. Über alles und jeden schien sich eine dünne Schneeschicht zu legen. Der Weltretter kam kaum noch voran. Die Eisgebilde kreisten uns ein und rückten uns immer näher auf den Pelz.
»Wann wurde die Berliner Mauer gebaut?«
Schon wieder so eine blöde Frage. Der Mauerbau lag Jahrzehnte zurück. Aber wie viele genau? Drei, vier oder gar fünf ?
»A. 1961, B. 1951, C. 1971«, bot das Eisungetüm an. Gleichzeitig fing es rückwärts an zu zählen.
»Zehn, neun …«
Eine richtige Hilfe war das auch nicht. Zumindest nicht für den Weltretter. Auf den war kein Verlass. Der hatte von der Vergangenheit so viel Ahnung wie ich von der Zukunft. Er sah mich erwartungsvoll an, als wäre ich der Weltretter. Dabei war ich doch nur ein kleiner, unscheinbarer Nussknacker.
Verflixt, wann war dieser verfluchte Mauerbau denn noch mal gewesen?
Ich versuchte mich zu erinnern. Ich stand damals neben dem Sandmännchen auf dem Fenstersims, als die Bauarbeiter vor meinen Augen die Mauer zwischen Ost- und Westberlin hochzogen. Das war 1961, wenn ich mich nicht irre.
»Vier, drei …«
»A«, flüsterte ich.
»A!«, rief der Weltretter.
Das Eisungetüm schmolz augenblicklich, und alle anderenEisgebilde ebenfalls. Ein Meer entstand. Wir fanden uns in einer unterwasserwelt wieder. Mit mir am Gürtel, glitt der Weltretter durchs die Tiefe.
»Wir haben es bald geschafft«, sagte er.
Wie kann der unter Wasser sprechen? ,
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