Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
geschminkt und herausgeputzt aus, als wollten sie an diesem Morgen nicht für gute Noten um den Sportplatz hetzen, sondern bei einer Werbeveranstaltung für Sportkleidung eine gute Figur machen. Alle redeten durcheinander. Bei den Freundinnen von Jessy und Amelie wurde meine Ersteigerung im Internet heftig diskutiert. Es war dasTop-Thema an diesem Morgen. Jeder glaubte, seinen Senf dazugeben zu müssen.
Was wissen diese amerikanischen Gören schon von einem fast einhundert Jahre alten Nussknacker aus den Bergen im alten Europa! , dachte ich. Außer von Beauty und Body, Fitness und Shopping hatten sie von nichts eine Ahnung, wie mir schien. Das war natürlich ungerecht von mir, aber langsam ging mir das Gekreische der pubertierenden Mädchen auf die Nerven. Die einen schlugen vor, mich beim Staffellauf als Stab zu missbrauchen. Die anderen kamen auf die glorreiche Idee, anstatt des Speerwurfs die lustigere Disziplin des Nussknackerschleuderns einzuführen.
Amelie blieb Cool. Sie lachte mit, tippte sich gelegentlich an die Stirn und schien gewillt, ihren Freundinnen jeden Hohn und Spott zu verzeihen.
* * *
Ich lag neben ihrer Tasche auf dem kurz gemähten Rasen des Sportplatzes, während die Mädchen unter den prüfenden Augen einer herrischen Lehrerin auf dem Rasen hin- und herjoggten.
Danach machten sie Stretchübungen und ließen die Arme wie Helikopterflügel kreisen. Dabei pfiff die Lehrerin in eine Trillerpfeife, dass mir die Ohren schwirrten. Ab und zu brüllte sie auch Zahlen in die Luft, als wäre der Sportplatz ein Truppenübungsgelände und die Mädchen im Vorbereitungskurs zum nächsten militärischen Kampfeinsatz gegen einen Schurkenstaat. Das schien ziemlich anstrengend zu sein. Manche stöhnten. Andere beteuerten, dem Zusammenbruch nahe, nicht mehr weitermachen zu können. Wieder andere, so schienmir, waren vor allem um ihr sich langsam auflösendes Äußeres besorgt. Die Schminke in den Gesichtern verwandelte die Mädchen in Krieger, komplett mit der entsprechenden Bemalung. Lustig.
* * *
Nicht weit von den Mädchen entfernt trainierten die Jungs am Mittelkreis des Sportplatzes Rugby, ebenfalls unter den beaufsichtigenden Blicken eines Lehrers. Es war ein ziemlich lahmer Haufen. Manche hatten offenbar ihre Sportkleidung vergessen und trugen normale Straßenklamotten. Einer sah sogar so aus, als käme er frisch vom Konfirmationsunterricht.
Die Schüler legten einen Rugbyball in die Mitte, stürmten in zwei Gruppen aufeinander zu und versuchten, sich gegenseitig den Ball abzujagen. Drei, vier Jungs ragten heraus. Sie schleppten nicht nur Muskelpakete mit sich herum, sondern wussten diese – und sich selbst – auffällig in Szene zu setzen.
Streber , dachte ich. Typen, die erst zum Lehrer blickten, um sich zu vergewissern, dass der es auch ja sehen konnte, bevor sie einen Gegenspieler besonders hart attackierten.
Ich sah, wie manche Mädchen, während sie die Köpfe kreisen ließen, einen Blick zu den Jungs warfen. Natürlich zu den Strebern, die die beste Figur machten. So lange, bis der Lehrerin die Blicke auffielen, woraufhin sie »Marie!« und »Josephine! und »Jessy!« rief, als wären die Girls kurz davor, sich den Jungs an den Hals zu werfen.
* * *
Am Ende der Stunde jagte die Lehrerin die Mädchen wieder mehrmals über den Platz, bis ihnen die Zunge so weitaus dem Mund hing, dass sie beinahe darüber stolperten. Das Outfit war nun endgültig dahin, sodass sie nach der Dusche im umkleideraum eine halbe Ewigkeit damit verbrachten, ihr Aussehen wieder in den Griff zu kriegen. Erstaunlicherweise gelang es allen. Darin, so schien es, hatten sie Übung. Natürlich redeten die Mädchen dabei wieder wild durcheinander, mit einem Geräuschpegel wie auf einem Jahrmarkt. Dieses Mal unterhielten sie sich über die strenge Lehrerin und die gut gebauten Streber der Klasse.
* * *
9.00 Uhr, Fotolabor.
Überall im Raum hingen Schwarz-Weiß-Fotos mit Wäscheklammern an gespannten Seilen. Es waren alles ähnliche Motive: Paare in der Landschaft. Ich erkannte einige Schüler darauf wieder. Vor Bäumen, Sträuchern, im Park oder auch mitten auf dem Schulgelände. Viele Fotos waren unscharf, manche verwackelt. Es gab aber auch welche, die ziemlich gut aussahen.
Auch Amelie war auf einigen Bildern zu sehen. Sie hielt einen Jungen im Arm und lachte dabei. Der Junge machte eher den Eindruck, als wäre es ihm peinlich.
Neben den Abzügen, die zum Trocknen am Seil hingen, baumelten auch Negativstreifen
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