Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
bei den Gässlers bleiben können. Sie hatten sich richtig lieb gewonnen. Wobei sich die Frauen der Familien besonders gut verstanden. Aber auch die Männer mochten einander. Nur Jenny und Julius fielen aus diesem Schema heraus und verstanden sich geschlechterübergreifend bestens. Nur die Großeltern nahmen an dieser Zusammenführung und familiären Wiedervereinigung, sieben Jahre nach dem Mauerfall, nicht teil. Obgleich sie sich am allerbesten verstanden.
Das Hochwasser ging nun tatsächlich zurück – so rasend schnell, wie es gekommen war. Während die englische Prinzessin unter die Erde gebracht wurde, wobei die ganze Welt zusah und Anteil nahm, war an der Oder fast wieder der normale Pegelstand erreicht. Die Aufräumarbeiten begannen. Die Menschen konnten langsam wieder in ihre Heimat zurückkehren. Abschiednehmen war angesagt, obgleich niemand von den Krauses und Gässlers es wahrhaben wollte. Die Nachrichtensendungen, in denen vom Hochwasser berichtet wurde, fanden keine Beachtung mehr. Die Familien schauten nur noch der Trauer um die tote Lady zu. Die Krauses versuchten ihre Heimreise so lange als möglich hinauszuzögern. Die Gässlers unterstützten sie dabei.
* * *
Julius hatte Geburtstag. Er wurde vierzehn. Seine Mutter hatte wie jedes Jahr einen leckeren kalorienarmen Kuchen gebacken, den die Krauses und Gässlers mit vielen »Mmmhs« und »Aaahs« und »Namnamnams« in sich hineinschlemmten. Dazu tranken sie den von Opa Gässler besorgten Champagner.
»Den besten, den es gibt!«, sagte der Opa und prostete allen zu.
Die Geburtstagsfeier war ganz und gar eine Familienangelegenheit. Freunde von Julius nahmen nicht teil. Er hatte nämlich keine. Meistens konnte er auch gut und gerne ohne Freunde leben. Zumindest dreihundertvierundsechzig Tage im Jahr. Nur einmal vermisste er sie mehr denn je. Am Geburtstag. Wegen der Geschenke natürlich. Keine Freunde, keine Geschenke von den Freunden. Julius’ Geburtstag war meist eine freudlose Angelegenheit. Nicht so dieses Mal.Dafür war sein Großvater verantwortlich. Das schönste Geschenk bekam er nämlich von Richard. Der alte Geizkragen und Schnorrer hatte es tatsächlich übers Herz gebracht, Julius seinen Lieblingswunsch zu erfüllen, auch gegen die Ankündigung des Vaters, dass dann der Teufel los sei. Der Küchentisch war vollgepackt mit Geschenken.
»Auspacken!«, befahl Oma Krause.
Julius wagte nicht, sich ihr zu widersetzen, und packte aus.
»Ein Roman über die griechische Geschichte«, sagte sein Vater, als Julius den tausendseitigen Schmöker in der Hand hielt.
»Danke«, murmelte er. Ich wusste, dass er nicht eine einzige Seite davon lesen würde.
Von seiner Schwester Nicole gab es zwei Kinofreikarten. Von den Erwachsenen bekam er wieder mal unterwäsche und die längst überfälligen Klamotten. Zuletzt öffnete Julius das Geschenk von Opa Gässler, das in einer überdimensionierten Schuhschachtel verpackt war.
»Ich werd verrückt!«, sagte Julius und sah tatsächlich so aus.
»Computer?« Vater Krause blickte auf das neumodische Gerät, als käme es aus einer anderen Welt.
Kam es auch.
»Das ist ein Mac!«, sagte Julius mit balsamierter Stimme ganz feierlich. Es klang wie »Das ist geil!« Oder zwischen den Zeilen: »Davon verstehst du nichts!«
Es war ein Macintosh Laptop.
Allen war klar, dass dieses Gerät auf keinen Fall gekauft sein konnte. Jedenfalls nicht zum regulären Preis. Wahrscheinlich war es Hehlerware. Der Gesichtsausdruck von Opa Gässler jedenfalls ließ keinen anderen Schluss zu. Der Alte hatte nichtdas Geld, um einen nagelneuen Laptop zu kaufen. Und hätte er das Geld gehabt, wäre er viel zu geizig gewesen, um es für Julius’ Geburtstagsgeschenk auszugeben.
»Wo hast du das her?«
»Ist doch egal.«
»Ist es nicht.«
Es klingelte an der Tür. Alle zuckten zusammen. Horst Krause zog den Vorhang zur Seite und blickte hinaus.
»Da steht ein Polizeiauto«, sagte er in einem Tonfall, als wollte er sagen: »Jetzt wandern wir alle in den Knast.«
Julius ließ den Laptop in der Eckbank verschwinden.
»Ich wusste es!«, sagte Vater Gässler.
»Nichts weißt du«, kam vom Opa. Oma Krause fügte hinzu: »In meinen Karten steht was ganz anderes.«
»Oma!«, versuchte Horst Krause seine Mutter zu bremsen.
Erneut klingelte es.
»Geh du«, sagte Vater Gässler und zeigte auf seine Frau.
»Ja, ja! Wenn’s schwierig wird, muss immer ich ran, was?« Mutter Gässler stapfte zur Haustür und ließ ihre Schuhe wie
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