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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Rauch durch den Schornstein gejagt wurde.
    * * *
    Dann war der Winter endlich vorbei. Allen fiel ein Stein vom Herzen, so groß wie die Sonne, die mit jedem Tag wärmer wurde. Die Temperaturen stiegen, und ich konnte gefahrlos die Registrierkasse verlassen und mich zurück ins Schaufenster stellen. Neben mir stand eine Holzlokomotive, die es auch irgendwie geschafft hatte, dem Feuer zu entkommen. Rasch freundeten wir uns an und versuchten, die Langeweile mit einem Ratespiel zu vertreiben. Gewonnen hatte immer der, der erriet, wer als Nächstes am Schaufenster vorbeikommen würde  – ob Mann oder Frau, Kind oder Tier, vielleicht ein Hund.
    »Katze«, schnaufte die Holzlokomotive.
    »Frau!«, sagte ich.
    Es war Wilhelm. Er kam in einem Affenzahn um die Ecke geflitzt und stürmte in den Laden. Er ließ die Tür offen stehen, rannte zur Mutter an den Verkaufstresen und rief: »Mama, Mama! Nur Einser und Zweier!«
    Stolz wedelte er mit seinem Zeugnis herum, bis es plötzlich knallte wie ein Böllerschuss. Hedwig und Wilhelm erschraken. Eine Windböe hatte die Ladentür zugeworfen. Die zufallende Tür wiederum hatte einen stürmischen Windstoß ins Schaufenster geweht. Dieser Windstoß ließ mich und die Holzlokomotive wackeln. Ich schwankte und kämpfte ums Gleichgewicht. Vergeblich: Ich kippelte, fiel von meinem kleinen Sockel, auf dem ich die ganze Zeit gestanden hatte, und flog durch die Luft. Ich kam mir vor wie ein Rotkehlchen, das ein schießwütiger Jäger abgeschossen hatte.
    In freiem Fall stürzte ich nach unten. Es schien eine Ewigkeitzu dauern, bis ich auf den Linoleumboden knallte. Anfangs dachte ich: Nichts passiert! Bis ich feststellte, dass mit meinem Gesicht etwas nicht mehr stimmte.
    Wilhelm kam herbeigerannt, kniete sich vor mich hin, nahm mich liebevoll in die Hand und sagte: »Der Kiefer! Mama, der Kiefer ist gebrochen!«
    »Macht nichts«, entgegnete Hedwig. »Der Nussknacker ist ohnehin nicht mehr zu verkaufen.«
    Trotzdem war Wilhelm untröstlich. Er entschuldigte sich mehrmals bei mir, sagte mir, wie leid es ihm täte und dass er gar nicht wisse, wie er die Sache wiedergutmachen könne.
    »Geschehen ist geschehen«, flüsterte ich. »Flick mich lieber wieder zusammen, als zu jammern.«
    Als könnte Wilhelm mich verstehen, fragte er: »Wie krieg ich das bloß wieder hin?«
    »Mit Leim«, sagte ich.
    »Mit Holzleim«, ergänzte Hedwig.
    Also nahm Wilhelm mich mit in die Werkstatt seines Vaters und leimte meinen gebrochenen Kiefer. Danach sah ich genauso aus wie vor dem Unfall, und doch war ich verändert, denn ich konnte den Kiefer nicht mehr bewegen. Der Mechanismus, der auch die härteste Nuss geknackt hätte, funktionierte nicht mehr, nicht mal bei der kleinsten Nuss der Welt. Als Nussknacker war ich unbrauchbar.
    »Ein Nussknacker, der keine Nuss mehr knacken kann, ist wie ein Auto ohne Räder. Oder wie eine Trillerpfeife, die immerzu stumm bleibt«, sagte Hedwig.
    Der Meister meldete sich nach langer Zeit mal wieder zu Wort und ergänzte brummend: »Und deshalb ist er nicht zu verkaufen!«
    Wilhelm freute sich insgeheim, denn wenn ich nicht verkauft werden konnte, blieb ich umso länger.
    Mir schien, dass es um meine Zukunftsaussichten im Holzschnitzladen von nun an besser bestellt war denn je.
    Umso schlechter ging es dem Holzschnitzladen. Immer weniger wurde verkauft. Wochenlang hockte Hedwig hinter dem Verkaufstresen, ohne dass ein einziger Kunde erschienen wäre. Manchmal zog Wilhelm mit einem Korb voller Wäscheklammern los und versuchte, sie im Dorf und auf dem Markt zu verkaufen.
    Dem Meister ging es immer schlechter, und schließlich wurde er krank. Ob es das Fieber war, die Gliederschmerzen oder der Kummer, der ihn ins Bett verbannte, konnte selbst der Arzt nicht sagen. Jetzt konnte Hedwig gar nicht mehr im Laden stehen, denn sie musste ihren bettlägerigen Mann pflegen. Von nun an saß Wilhelm, wenn er aus der Schule kam, hin und wieder auf dem kleinen Schemel hinter dem Tresen und wartete vergeblich auf Kundschaft. Und wenn auch Wilhelm nicht im Laden hockte, hing ein Schild an der Tür, auf dem stand: Wegen Krankheit geschlossen.
    * * *
    Eines Tages, als ich mich mal wieder mit der Holzlokomotive über die schlechten Zeiten unterhielt und wir uns dann mit einem Ratespiel die Langeweile vertrieben, blieb ein gut gekleideter Mann vor dem Schaufenster stehen. Er entdeckte das Schild an der Tür und klopfte. Wilhelm bog gerade mit dem Korb um die Ecke und kam die Straße entlang.

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