Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
Vom Netzwerk:
kann ich jetzt nicht für ihn tun.«
    * * *
    Die Zeiten wurden nicht besser. Sie wurden schlechter und schlechter. Es gab immer weniger Arbeit und immer mehr Menschen, die hungern mussten. Nicht einmal Brot und Wurst konnten sie sich kaufen. Geschweige denn Toilettenpapierrollenhalter und Salatschüsseln. Und Nussknacker am allerwenigsten. Wenn überhaupt, kauften sie meine billigeren Verwandten in den Warenhäusern.
    Hedwig stellte mich ins Schaufenster neben die Tür, in der Hoffnung, dass ein zufällig vorbeikommender Passant mich sah und das nötige Geld hatte, mich zu kaufen. Die zufällig vorbeikommenden Passanten sahen mich auch, und ich sah sie, aber keiner kam in den Laden und wollte mich. Hin und wieder blieb ein Kind vor dem Schaufenster stehen, drückte sich die Nase an der Scheibe platt und blickte mich mit großen, traurigen Augen an, bevor es barfuß und in zerlumpten Hosen davonrannte.
    * * *
    Die Zeit verging wie im Fluge. Es kam mir vor, als fegte sie dahin wie eine Windböe, die alles mit sich reißt. Im Ruhrgebiet streikten Hunderttausende von Bergarbeitern gegen eine Verlängerung der Arbeitszeit. In Berlin fuhren jetzt Autobusse anstelle von Pferdefuhrwerken durch die Stadt. Und während Kaiser Wilhelm II . in München den Grundstein für das Deutsche Museum legte, war der kleine Wilhelm traurig. Nichtskonnte ihn aufheitern, weil es dem Holzschnitzladen einfach nicht besser gehen wollte.
    Ich stand neben einem Wäscheständer im Schaufenster, schaute durch die Glasscheibe dem Treiben auf der Straße zu und verstaubte und verblasste zusehends. Draußen liefen immer mehr Leute barfuß auf der Straße herum, weil sie sich keine Schuhe mehr leisten konnten. Die Kleidung wurde zerlumpter, die Körper abgemagerter. Alles wurde grauer, trostloser, verzweifelter. Je länger ich im Schaufenster stand, umso weniger Kunden kamen in den Laden. Manchmal hockte Hedwig den ganzen Tag hinter dem Verkaufstresen, ohne dass die Türglocke ein einziges Mal gebimmelt hätte. Der Meister vergrub sich in seiner Werkstatt, sprach kaum noch ein Wort und wurde immer eigenbrötlerischer. Wenn er alle paar Wochen in den Laden kam, war er ganz fahl im Gesicht. Und wenn seine Frau ihn dann fragte, was los sei, brummte er nur: »Es hat ja doch keinen Sinn.«
    »Was hat keinen Sinn, Papa?«, wollte Wilhelm einmal wissen.
    Der Meister schaute ihn verunsichert an, dachte nach und sagte dann wie zu sich selbst: »Die Schnitzerei. Das hier!« Er zeigte mit einer weit ausholenden Geste im Laden herum. »Alles!«
    Dann verschwand der Meister wieder in seiner Werkstatt. Hedwig schüttelte den Kopf, und Wilhelm zuckte mit den Schultern.
    Irgendwie , dachten beide, wird es schon weitergehen .
    * * *
    Es ging weiter. Aber es wurde nicht besser. Der Winter kam, und mit ihm der Frost. Das Thermometer fiel immer tieferund erreichte zuletzt minus dreißig Grad celsius. Das Wasser gefror in den Rohren. An den Fenstern im Haus und am Schaufenster des Ladens prangten zentimeterdicke Eisblumen, die im Sonnenlicht wie geschliffene Diamanten funkelten. Den Leuten ging das Heizmaterial aus, und die Kohlen waren längst aufgebraucht. Die Menschen bibberten in ihren Wohnungen. Viele, die kein Dach über dem Kopf hatten, erfroren.
    Der Meister verheizte zuerst seine Holzvorräte aus der Werkstatt. Als die aufgebraucht waren, warf er nach und nach seine Schnitzereien ins Feuer. Er lief mit einem Wäschekorb durch den Laden und sammelte alles ein, was gut brannte und nicht zu verkaufen war: Salatschüsseln, Wäscheständer, Kochlöffel, Toilettenpapierrollenhalter und Kleiderbügel verflüchtigten sich durch den Schornstein und spendeten vorübergehend ein bisschen Wärme.
    Ich hatte Angst, auch so zu enden, wenn der Winter nicht bald vorbei war. Als hätte der Meister meine Gedanken gelesen, rief er durch den Laden: »Wo ist dieser Nussknacker? Der stand doch die ganze Zeit im Schaufenster!«, und suchte nach mir, fand mich aber nicht.
    Seine Frau zuckte mit den Schultern, und Wilhelm tat so, als hätte er noch nie von einem Nussknacker gehört.
    Jedenfalls, der Meister bekam mich nicht zu fassen. Ich kauerte in der Registrierkasse, wo früher die Geldscheine und Münzen gelegen hatten. Jetzt gab es keine Geldscheine und Münzen mehr; deshalb war genügend Platz für einen vom Meister steckbrieflich gesuchten Nussknacker.
    Wie ich in die Kasse gekommen war, wusste nur Wilhelm. Es war sein Verdienst, denn er mochte mich und wollte nicht, dass ich als

Weitere Kostenlose Bücher