Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)
darauf, keine weiteren Kommentare zu provozieren. Die würden sich einstellen, wenn es darauf ankam, von selbst, vor der Kamera.
Er trank seinen Scotch aus, hielt den Becher aber weiter fest, nahe der Gürtellinie. Ich trank Wodka mit Orangensaft und geschmolzenem Eis. Der Drink war in dem Stadium seines Drinklebens angekommen, wo man den letzten milden Schluck nimmt und in trübseliger Innenschau versinkt, irgendwo zwischen Selbstmitleid und Selbstanklage.
Wir saßen da und dachten nach.
Ich warf ihm einen Blick zu. Ich wollte zu Bett gehen, fand aber, ich sollte nicht vor ihm aufstehen, warum auch immer, an anderen Abenden hatte ich es getan. Es war totenstill im Zimmer, im Haus, überall dort draußen, offene Fenster, nichts als Nacht. Dann hörte ich, wie in der Küche eine Mausefalle ausgelöst wurde, die Klammer losschnellte, die Falle hüpfte.
Jetzt waren wir zu dritt. Aber Elster schien es nicht zu bemerken.
In New York benutzte er einen Gehstock, den er nicht brauchte. Vielleicht hatte er gewohnheitsmäßig Schmerzen in einem Knie, aber der Stock war ein Gefühlsaccessoire, da war ich mir sicher, das er sich kurz nach seiner Entlassung aus dem Ministerialdienst zugelegt hatte, Nachrichten und Verkehr. Er sprach beiläufig von einem künstlichen Knie, eigentlich mehr zu sich selbst als zu mir, ein Anlass für Selbstmitleid. Elster neigte dazu, überall zu sein, in allen vier Ecken eines Raumes, und Eindrücke von sich selbst zu sammeln. Ich mochte den Stock. Er half mir, ihn zu erkennen, er hob ihn aus der öffentlichen Darstellung heraus, als Mann, der in einem schützenden Hohlraum leben musste, einem weltengroßen Schoß, frei von den gleichmacherischen Tendenzen der Ereignisse und menschlichen Verbindungen.
In diesen Wüstentagen riss ihn nur weniges aus seiner anscheinenden Ruhe. Unsere Autos hatten Vierradantrieb, das war wesentlich, und obwohl er schon so viele Jahre hier war, musste er sich offenbar immer noch ans Offroadfahren gewöhnen oder an das Fahren überhaupt, egal, wo. Er bat mich, das GP S in seinem Wagen zu programmieren. Er wollte, dass das System benutzt wurde, stellte dessen Funktionstüchtig keit auf die Probe. Er war grummelnd zufrieden, als es ihm mit karger männlicher Stimme mitteilte, was er schon wusste, in zweieinhalb Kilometern rechts abbiegen, was ihn zu dem Parkplatz des Supermarkts in der Stadt führte, fünfunddreißig Kilometer hin, fünfunddreißig Kilometer zurück. Er kochte jeden Tag für uns, bestand darauf, das Abendessen zu machen, und zeigte keinerlei Anzeichen von Argwohn, wie sie typisch sind für Menschen seines Alters gegenüber bestimmten Speisen und deren Wirkung auf den Körper, der sie verzehrt.
Ich machte allein Ausflüge, suchte mir abgelegene Ausgangspunkte von Wegen und saß dann nur im Auto, beschwor den Film herauf, drehte den Film und starrte auf die Sandsteinödnis. Oder ich fuhr in Sackgassen-Canyons, über harte, trockene, rissige Erde, während der Wagen in Hitze schwamm, und dann dachte ich an meine Wohnung, zwei kleine Zimmer, die Miete, die Rechnungen, die unbeantworteten Anrufe, die Frau nicht mehr da, die getrennte Frau, der Hausbetreuer im Wahn, die ältere Frau, die die Treppen rückwärts hinunterging, langsam, ewig, über vier Stockwerke rückwärts, und ich hatte sie nie gefragt, warum.
Ich unterhielt mich mit Elster über einen Essay, den er vor ein paar Jahren geschrieben hatte, mit dem vieldeutigen Titel »Renditions« . Er erschien in einer Wissenschaftszeitschrift und stachelte bald kritische Stimmen der Linken auf. Das mochte seine Absicht gewesen sein, aber ich konnte auf diesen Seiten eigentlich nur die implizite Aufforderung entdecken, herauszufinden, worum es eigentlich ging.
Der erste Satz lautete: »Eine Regierung ist ein kriminelles Unterfangen.«
Der letzte Satz lautete: »Natürlich werden in der Zukunft Männer und Frauen in Waben sitzen und über Kopfhörer die geheimen Bänder der Regierungsverbrechen anhören, während andere elektronische Akten auf Computerbildschirmen studieren und wieder andere gerettete Videos von schwer gefolterten Männern in Käfigen anschauen und schließlich noch andere, immer noch andere hinter verschlossenen Türen Einzelne aus Fleisch und Blut gezielt befragen.«
Zwischen diesen Sätzen stand eine Studie über das englische Wort rendition, mit Rückbezügen auf das Mittelenglische, Altfranzösische und Vulgärlatein sowie weitere Quellen und Ursprünge. Ziemlich zu Anfang
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