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Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Titel: Der Omega-Punkt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Geld, Hedgefonds. Jedes Projekt wird zu einer Obsession, was sollte das Ganze sonst. Und das jetzige ist dein Vater. Ich weiß, er ist der Richtige dafür, und ich habe so ein Gefühl, dass er es auch weiß. Aber ich kriege keine Antwort aus ihm heraus. Machen, nicht machen, vielleicht, niemals, ein andermal. Ich schaue in den Himmel und frage mich. Wozu bin ich eigentlich hier, verdammt noch mal?«
    »Gesellschaft«, sagte sie. »Der Mann hasst es schon rein körperlich, allein zu sein.«
    »Hasst es, allein zu sein, und kommt doch hierher, weil es hier nichts gibt, niemanden. Andere Menschen bedeuten nur Kampf, sagt er.«
    »Nicht diejenigen, deren Gesellschaft er sich aussucht. Ein paar Studenten über die Jahre, dann meine glückliche Wenigkeit und früher mal meine Mutter. Er hat zwei Söhne von seiner ersten Frau. Schutt und Asche, so nennt er sie. Lass dir bloß nicht einfallen, das Thema auf seine Söhne zu bringen.«
    Die meiste Zeit redeten wir über nichts, sie und ich. Wir hatten augenscheinlich nichts gemeinsam, aber immer wieder schwebten Themen vorüber. Sie sagte, es verwirre sie, eine Rolltreppe zu betreten, die nicht funktionierte. Das war auf dem Flughafen von San Diego passiert, wo ihr Vater sie abholen sollte. Sie betrat eine Rolltreppe nach oben, die sich nicht bewegte, und sie konnte sich nicht darauf einstellen, sie musste sich zwingen, die Stufen emporzusteigen, und das war schwierig, weil sie immer wieder erwartete, die Stufen würden sich doch bewegen, und irgendwie war es halbwegs ein Gehen, aber dann doch nirgendwohin, weil sich die Stufen nicht bewegten.
    Sie fuhr nicht Auto, weil sie nichts mit Händen und Füßen gleichzeitig bedienen konnte. Einer der Menschen, um die sie sich kümmerte, war gerade an multiplem Dings gestorben. Ihre Mutter sprach Russisch am Telefon, Wirbelstürme von Russisch, Tag und Nacht. Sie mochte den Winter, Schneeflächen im Park, aber allzu weit ging sie nicht hinein, Eichhörnchen konnten winters Tollwut haben.
    Ich mochte diese Gespräche, sie waren ruhig, mit einer unheimlichen Tiefe in jeder Zufallsbemerkung, die sie machte. Manchmal starrte ich sie an und erwartete, was, eine Erwiderung des Blickes, ein Anzeichen des Unbehagens. Sie hatte gewöhnliche Züge, braune Augen, braunes Haar, das sie immer hinters Ohr zurückstrich. Ihr Aussehen hatte etwas Selbstbestimmtes an sich, etwas Unscheinbares, das wie Absicht wirkte. Es war eine Entscheidung, die sie getroffen hatte, so auszusehen, das sagte ich mir jedenfalls. Sie führte ein anderes Leben, weit entfernt von meinem, und das bot mir Entspannung von der konstanten Tunnelbohrung, die ich mit meiner Zeit hier veranstaltete, und auch eine Art Ausgleich zum Zugriff ihres Vaters auf meine unmittelbare Zukunft.
    Elster schleppte sich im Pyjama aus seinem Schlafzimmer zu uns auf die Terrasse, barfuß, Kaffeebecher in der Hand. Er sah Jessie an und lächelte dann, als sei ihm trotz aller Schlappheit eingefallen, dass er etwas tun wollte. Er wollte lächeln.
    Er ließ sich auf einem Stuhl nieder, sprach langsam, mit schwacher, versengter Stimme, schlechte Nacht, früher Morgen.
    »Bevor ich irgendwann eingeschlafen bin, dachte ich daran, wie ich als kleiner Junge versuchte, mir das Ende des Jahrhunderts vorzustellen, und was für ein fernes Wunder das war, und ich rechnete aus, wie alt ich sein würde, wenn es zu Ende ging, Jahre, Monate, Tage, und jetzt schaut mal, unglaublich, wir sind hier – sechs Jahre weiter, und mir wird klar, ich bin immer noch der schmächtige Junge, mein Leben ist von seiner Gegenwart überschattet, er will nicht auf die Fugen im Bürgersteig treten, nicht aus Aberglauben, sondern als Test, als Disziplinierung, ich tu’s immer noch. Was noch? Beißt die Haut vom Rand des Daumennagels ab, immer am rechten Daumen, tu’s immer noch, loses Stückchen toter Haut, und so weiß ich, wer ich bin.«
    Einmal hatte ich in das Arzneischränkchen in seinem Badezimmer geschaut. Ich brauchte die Tür des Schränkchens nicht zu öffnen, es gab keine. Reihenweise Flaschen, Röhrchen, Pillenschachteln, fast drei Regalböden voll, und ein paar andere Flaschen, eine offen, auf dem Spülkasten, einige Beipackzettel lagen verstreut auf einer Bank, auseinandergefaltet, mit kleiner, fetter Warnschrift darauf.
    »Nicht meine Bücher, Vorträge, Gespräche, nichts davon. Es ist der verdammte Niednagel, die tote Haut, das bin ich, mein Leben, von dort bis hier. Ich spreche im Schlaf, immer schon, meine

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