Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)
wieder, sagte er, Zukovsky und Pound, manchmal laut, sogar Rilke im Original, ab und zu flüsterte er ein, höchstens zwei Zeilen aus den Elegien. Er übte sein Deutsch.
Ich hatte nur einen Film gemacht, eine Idee für einen Film, sagten manche Leute. Ich machte ihn, ich brachte ihn zu Ende, die Leute sahen ihn, aber was sahen sie? Eine Idee, sagten sie, die eine Idee geblieben sei.
Ich wollte ihn nicht Dokumentarfilm nennen, obwohl er vollständig aus Dokumentarmaterial bestand, alten Filmaufnahmen, abgefilmten Fernsehshows aus den Fünfzigerjahren. Das Material war gesellschaftlich und historisch relevant, aber so weit bearbeitet, dass es die Grenzen von Information und Objektivität überschritt, und insofern nicht mehr dokumentarisch. Ich fand, es hatte etwas Religiöses, vielleicht war ich da der Einzige, religiös, verzückt, ein hingerissener Mann.
Der Mann, die einzige Person, die durchweg zu sehen war, war der Komiker Jerry Lewis. Der Jerry Lewis der frühen Benefiz-Marathonshows, einmal pro Jahr zugunsten von Menschen, die an Muskelschwund litten, Jerry Lewis Tag und Nacht und bis in den folgenden Tag hinein, heroisch, tragikomisch, surreal.
Ich sah mir abgefilmtes Fernsehen aus den frühen Jahren an, jede ferne Minute davon, das war eine andere Zivilisation, das Amerika der Jahrhundertmitte, und die Aufnahmen ließen an irgendeine anomale technologische Lebensform denken, die sich aus dem verstrahlten Staub des Atomzeitalters hervorkämpfte. Ich schnitt sämtliche Gastauftritte heraus, die Kasino-Auftritte, die Filmstars, die Tänzer, die behinderten Kinder, das Studiopublikum, die Kapelle. Der Film bestand nur aus Jerry, die schiere Show, Jerry redend, singend, weinend, Jerry in seinem Rüschenhemd mit offenem Kragen, mit lose hängender Fliege, dazu einen um die Schultern geworfenen Waschbären, Jerry, der die Nation um vier Uhr morgens zu Liebe und Nachdenklichkeit aufforderte, in Nahaufnahme, ein schwitzender Mann mit Bürstenhaarschnitt im Halbdelirium, ein Krankheitskünstler, der uns anbettelt, Geld zur Heilung seiner leidenden Kinder zu schicken.
Ich ließ ihn in ungeordneten Abschnitten schwadronieren, ein Jahr ging ins nächste über, oder Jerry ohne Ton, als Clown mit XBeinen und Hasenzähnen, er hüpft in Zeitlupe auf einem Trampolin herum, die alten mangelhaften Filmaufnahmen, die Bildstörungen und willkürlichen Geräusche im Soundtrack, die Streifenmuster auf dem Bildschirm. Er steckt sich Trommelschlägel in die Nasenlöcher und das Handmikro in den Mund. Ich fügte Intervalle mit moderner Musik hinzu, Tonreihen, ein bestimmtes widerhallendes Dröhnen. In der Musik lag eine dramatische Strenge, sie erhob Jerry über den Augenblick, in eine größere unhistorische Umgebung, ein Mann mit einem Auftrag von Gott.
Ich zerbrach mir den Kopf über die Spielzeit des Films und entschied mich schließlich für ein absonderliches Siebenundfünfzig-Minuten-Format, er lief auf ein paar Dokumentarfilmfestivals. Es hätten genauso gut einhundertsiebenundfünfzig Minuten sein können, vier Stunden, sechs Stunden. Der Film laugte mich aus, machte mich fertig, ich wurde zu Jerrys rasendem Double, dass mir schier die Augäpfel aus dem Kopf sprangen. Manchmal ist etwas Schwieriges schwierig, weil man es falsch macht. Das hier war nicht falsch. Aber ich wollte nicht, dass Elster davon erfuhr. Weil, wie würde er sich fühlen als Nachfolger, als ganz normaler Mann nach einem wild gewordenen Komiker.
Meine Frau sagte mal zu mir: »Film, Film, Film. Du bist so intensiv, es fehlt nicht viel, und man müsste dich als schwarzes Loch bezeichnen. Ein sonderbares Phänomen«, sagte sie. »Kein Licht dringt nach draußen.«
Ich sagte: »Ich habe die Wand, ich kenne die Wand, sie steht in einem Loft in Brooklyn, einem großen dreckigen Industrieloft. Ich komme so ziemlich jederzeit rein, Tag oder Nacht. Die Wand ist überwiegend blassgrau, paar Risse, paar Flecken, aber die lenken nicht ab, das sind keine selbstreferenziellen Designelemente. Die Wand ist stimmig, ich denke an sie, ich träume von ihr, ich schlage die Augen auf und sehe sie, ich schließe die Augen, und sie ist da.«
»Sie haben ein tiefes Bedürfnis, das durchzuziehen. Sagen Sie mir, warum«, sagte er.
»Sie sind die Antwort auf diese Frage. Was Sie sagen, was Sie uns über die letzten Jahre erzählen werden, was Sie wissen, das niemand sonst weiß.«
Wir waren drinnen, es war spät, er trug die alte zerknitterte Hose, ein olles Sweatshirt,
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