Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)
zitierte Elster eine der Bedeutungen des zugehörigen Verbs, übrigens in der Verlaufsform, rendering – wenn eine gemauerte Oberfläche mit einer Schicht Gips verputzt wird. Davon ausgehend forderte er den Leser auf, sich einen ummauerten Raum in einem namenlosen Land vorzustellen und eine Methode der Befragung, bei der nachdrückliche Verhörtechniken, wie er es nannte, zum Einsatz kamen, bis die Befragten auf- oder nachgaben (eine weitere der Bedeutungen des Verbs).
Ich hatte den Text bei seinem Erscheinen nicht gelesen, wusste gar nichts davon. Hätte ich ihn früher gekannt als den Autor, was hätte ich von ihm gehalten? Wortursprünge und heimliche Gefängnisse. Altfranzösisch, obsoletes Französisch und Folter qua Assoziation. Der Essay konzentrierte sich auf das eigentliche Wort, seinen frühesten nachgewiesenen Gebrauch, Form- und Bedeutungswechsel, Nullformen, reduplizierte Formen, Formen mit Präfixen. Es gab Fußnoten wie zusammengerollte Schlangen. Aber keine spezielle Erwähnung von Geheimgefängnissen, Drittstaaten oder internationalen Verträgen und Abkommen.
Er verglich die Evolution eines Wortes mit der von organischer Materie.
Er behauptete, Wörter gehörten nicht notwendig zu der Erfahrung wahren Lebens.
Gegen Ende des Kommentars schrieb er über ausgewählte, heute im Englischen gängige Bedeutungen des Wortes rendition – Interpretation, Übersetzung, Aufführung. Innerhalb dieser Mauern, irgendwo in aller Abgeschiedenheit, wird ein Drama aufgeführt, so alt wie das Menschengedenken, die Schauspieler nackt, angekettet, mit verbundenen Augen, schrieb er, dabei weitere Schauspieler mit Requisiten der Einschüchterung, die zum Aufgeben zwingen, er nannte sie renderer, namenlos und maskiert, ganz in Schwarz, und daraus, so schrieb er, entsteht ein Rachespiel, das den Willen der Masse widerspiegelt und die verschatteten Bedürfnisse einer, unserer Nation interpretiert.
Ich stand in einer Ecke der Terrasse, wo die Sonne nicht hinkam, und fragte ihn nach dem Essay. Er winkte ab, beim ganzen Thema. Ich fragte ihn nach dem ersten und dem letzten Satz. Sie wirken im größeren Zusammenhang etwas fehl am Platze, sagte ich, wo von Verbrechen und Schuld gar nicht die Rede ist. Dieser Bruch ist ziemlich auffällig.
»Soll so sein.«
Soll so sein. Okay. Soll die Kritiker der Regierung verunsichern, sagte ich, nicht die Entscheider. Knallhart ironisch.
Er saß in einem alten Schaukelstuhl, den er im Schuppen hinter dem Haus gefunden hatte, einem verpflanzten Strandliegestuhl, schlug mit träger Verachtung ein Auge auf und musterte den Narren, der das Offensichtliche ausspricht.
Okay. Aber was hatte er von dem Vorwurf gehalten, er habe Rätsel und Romantik in einem Wort entdecken wollen, das als Instrument des Staatsschutzes benutzt wurde, einem Wort, das zu etwas Synthetischem umgestaltet worden war und so seinen schändlichen Gehalt verbarg.
Doch diese Frage stellte ich nicht. Stattdessen ging ich ins Haus und holte uns zwei Gläser Eiswasser, kam wieder heraus und setzte mich in den Stuhl neben ihm. Ich fragte mich, ob er recht damit hatte, dass das Land das brauchte, brauchten wir das in unserer Verzweiflung, unserem Dahinschrumpfen, brauchten wir etwas, irgendetwas, was immer wir kriegen konnten? – rendition, ja, und dann invasion.
Er hielt das kalte Glas an die Seite seines Kopfes und sagte, die negative Reaktion habe ihn nicht überrascht. Die Überraschung sei später gekommen, als er von einem ehemaligen Universitätskollegen kontaktiert und zu einem privaten Treffen in einem Forschungsinstitut außerhalb von Washington eingeladen wurde. Da saß er dann in einem getäfelten Raum mit mehreren anderen, darunter auch dem stellvertretenden Direktor eines Strategischen Planungsteams, das nirgendwo in den offiziellen Akten vorkam. Er nannte den Namen des Mannes nicht, entweder weil ein derart heikles Detail innerhalb der Wände eines getäfelten Raums verbleiben musste oder weil er wusste, dass mir der Name nichts sagen würde. Sie sagten Elster, sie suchten einen Mann von seinem interdisziplinären Format, mit gutem Ruf, der das Gespräch auffrischen und den Blickwinkel weiten könne. Darauf folgte seine Zeit in der Regierung, für die er seine Vortragsreihe in Zürich unterbrach, über das, was er den Traum vom Aussterben nannte, und nach zwei Jahren und ein paar Monaten landete er hier, wieder in der Wüste.
Es gab keine Morgen oder Nachmittage. Jeder Tag war nahtlos, bis die Sonne
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