Der Orden
Aurelianus starrte diese wilde, urtümliche Gestalt beinahe ehrfürchtig an.
Du Narr, Artorius, dachte sie.
Artorius sagte: »Vor vielen hundert Jahren – so erzählen die Barden – stieß ein gewaltiges Heer derjenigen, die von den Römern Barbaren genannt werden, der Celtae, durch ganz Europa vor und brannte Rom nieder. Unter ihnen waren Britannier, wie es heißt. Was einmal gelang, kann wieder gelingen…«
Er rief zu einer Erhebung der Celtae auf – ihre Kultur sei beiseite gefegt worden, behauptete er, zuerst von den Caesaren und nun von den christlichen Päpsten. Es werde ein Feldzug sein, der Britannien und Europa ein für alle Mal vom römischen Joch befreien werde. Und er werde das tun, indem er sich Rom nahm.
»Manche beschuldigen mich, nach dem Purpur zu streben«, sagte Artorius nun. »Dem Kaisermantel. Aber ich will nicht den Mantel der Caesaren, sondern den von Brutus, Lear und Cymbeline, den Vorvätern Britanniens. Und die Götter, die mich schützen werden, sind nicht der Christus und sein Vater, sondern die älteren Götter, die wahren Götter, Lud, Coventina, Sulis und die drei Mütter…«
Ceawlin manövrierte sich dicht an Regina heran.
Regina schloss die Augen. Sein Gestank bereitete ihr Übelkeit, genau wie an jenem Tag an der Flussmauer. Und dennoch musste sie solcherlei Empfindungen beiseite schieben und mit der Klarheit denken, um die sie jeden Tag zu den matres betete.
Brica würde durch ihren Kontakt mit diesem fetten Schwein Schaden nehmen. Aber die Familie würde schlimmeren Schaden nehmen, wenn sie untätig zusah, wie Artorius sich in sein selbstmörderisches Abenteuer stürzte und das, was er aufgebaut hatte, in alle vier Winde zerstreut wurde… wie all der sorgsam erworbene Schutz sich in Nichts auflöste. Brica war für sie der kostbarste Mensch der Welt. Aber zusammen waren sie eine Familie. Und die Familie, ihr Fortbestehen in der Zukunft, war wichtiger als jede Einzelperson.
Es gab nur eine Möglichkeit.
»Eine Bedingung«, flüsterte sie Ceawlin zu. »Schwängere sie nicht.«
Ceawlin lehnte sich zurück, und sein Gestank ließ ein wenig nach.
Artorius war mit seiner Rede fertig. Seine Bundesgenossen – diejenigen, die ihm quer durch Europa folgen würden, und diejenigen, die ihn schon verraten würden, bevor sie diesen Raum verließen – jubelten und brüllten gleichermaßen.
23
Lucia fuhr mit dem Bus zur Piazza Venezia. Von dort waren es nur ein paar Minuten zu Fuß bis zur Piazza Navona. Sie setzte sich in ein Straßencafé und nippte an einem Eistee. Es war ein heller Januartag.
Die Piazza war eine lang gestreckte, rechteckige Fläche, umgeben von drei- und vierstöckigen Gebäuden. Es wimmelte von Straßenmalern und Straßenhändlern, die Handtaschen, Hüte und Schmuckstücke aus Koffern verkauften. Es gab nicht weniger als drei Brunnen. Der mittlere war der Brunnen der Vier Flüsse, dessen vier Statuen den Ganges, die Donau, den Rio de la Plata und den Nil darstellten. Als Lucia noch klein gewesen war, hatte sie sich gefragt, warum die Nil-Statue eine Augenbinde trug; der Grund war, dass man die Quelle des Nils zum Zeitpunkt ihrer Entstehung noch nicht gefunden hatte.
Diese hübsche Piazza war einer ihrer Lieblingsplätze in Rom. Sie fragte sich, wie Daniel das wohl erraten hatte. Dann kam sie zu dem Schluss, dass sie töricht war; es war nur ein Zufall. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: Viertel nach drei. Sie trank ihren Tee und schreckte, getarnt von ihren blauen Brillengläsern, vor den forschenden Blicken vorbeigehender Jungen und Männer zurück.
Natürlich hatte sie kein Recht zu erwarten, dass er hier sein würde. Die zufällige Begegnung am See lag drei Wochen zurück und hatte, vergiftet von Pinas Feindseligkeit, auch nur ein paar Minuten gedauert.
Sie war ziemlich sicher, dass Pina niemandem von der cupola erzählt hatte, was vor dem Äskulaptempel vorgefallen war. Seither hatte Pina jedoch jedes Mal, wenn Lucia die Krypta verließ, einen Grund gefunden, sie zu begleiten. In den ersten paar Tagen war sie ihr sogar auf die Toilette gefolgt. Bei Lucias letztem Ausflug nach draußen war Pina jedoch mit anderen Aufgaben beschäftigt gewesen und hatte sie allein losziehen lassen. Vielleicht hatte sie sich ein wenig entspannt. Lucia hatte an jenem Tag nicht gewagt, etwas zu unternehmen. Aber heute war es ihr erneut gelungen, die oberirdischen Büroräume der Krypta zu verlassen, ohne dass Pina sie sah, soweit sie es sagen konnte.
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