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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Also nutzte Lucia die Chance.
    Aber sie hatte ihre Zeit verschwendet. Zwanzig nach drei. Das war dumm. Sie nahm ihre Handtasche und die Zeitschrift, die sie zur Tarnung auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Vielleicht war es am besten so, dachte sie. Was hätte sie schließlich schon zu dem Jungen sagen können, wenn er aufgetaucht wäre? Und außerdem…
    »Hallo.« Er stand vor ihr, diesmal ohne Sonnenbrille. Seine hohe Stirn glänzte vor Schweiß. »Tut mir Leid, dass ich zu spät komme. Der verdammte Bus hatte eine Panne, und ich musste laufen.«
    Sie saß da und umklammerte töricht ihre Handtasche.
    Er setzte sich. »Aber weißt du was? Ich war völlig unbesorgt. Ich hab mir gesagt, dass Murphys Gesetz mich nicht im Stich lassen würde. Dies war der einzige Tag seit drei Wochen, an dem ich zu spät dran war, also würdest du heute kommen.« Er grinste. »Entschuldige.«
    Sie stellte ihre Handtasche unter ihren Stuhl und hätte dabei fast ihren Eistee umgeworfen. Daniel musste ihn festhalten. »Entschuldige dich nicht«, sagte sie. Selbst ihre Stimme klang linkisch. »Ich bin diejenige, der es Leid tun sollte. Schließlich bin ich drei Wochen lang nicht erschienen.«
    »Du hattest ja auch keinen Grund. Du kennst mich nicht.« Seine Miene wurde ernster. »Jedenfalls weiß ich, dass du in Schwierigkeiten bist. Deine Schwester ist ja ein richtiger Wachhund.«
    »So einfach ist das nicht«, sagte sie abwehrend.
    Er musterte sie mit seinen großen, blauen Augen.
    Ein Kellner in weißem Hemd und Fliege glitt mit Speisekarten an ihrem Tisch vorbei. Daniel bestellte rasch noch eine Runde Eistee für sie beide. Der Kellner lächelte sie an, nahm eine kleine Schale mit getrockneten Blumen von einem Nachbartisch und stellte sie ihnen hin.
    »Na, wie findest du das? Er hält uns für ein Liebespaar.«
    »Wir können kein Liebespaar sein«, sagte sie unbeholfen.
    Er zog die Augenbrauen hoch. »Nein?«
    »Nein. Ich bin nämlich erst fünfzehn.«
    »Okay.« Er nickte. Sie hatte das Gefühl, dass er seine Enttäuschung verbarg, während er sich auf die veränderte Lage einzustellen versuchte. »Wir können aber trotzdem Freunde sein, oder? Auch wenn du erst fünfzehn bist.«
    »Ich glaube schon.«
    Er ließ den Blick über den Platz schweifen und löste damit die leichte Spannung auf. »Schau dir das an. Sie verkaufen immer noch Befanas.« Ein Stand voller solcher Puppen stand neben einem alten, bemalten hölzernen Karussell, um das sich kleine Kinder drängten.
    Befana war die Schwester des Weihnachtsmanns. Sie trug Kopftuch und Brille und hielt einen Besen in der Hand. Sie hatte die Heiligen Drei Könige auf ihrem Weg zum Jesuskind verpasst. Zum Ausgleich brachte sie am zwölften Weihnachtstag Geschenke für brave italienische Kinder – und Kohlenstücke für die bösen.
    »Für mich hat sie was von einer Hexe«, meinte Daniel.
    »Gibt es Befana bei euch in Amerika nicht?«
    »Nein. Ich bin mit dem Coca-Cola-Weihnachtsmann aufgewachsen. Aber das war schon in Ordnung.«
    »Bei uns gab es immer nur Befana, aber ohne den Weihnachtsmann.« Das stimmte. In der Krypta wurde Weihnachten gefeiert; es gab große Feste für alle in den Theatern und Versammlungshallen, bei denen sich die Altersgruppen mischten und Spiele und Wettbewerbe veranstaltet wurden. Und es gab in großen Mengen eingekaufte Geschenke, Spielsachen und Spiele, sogar Schmuckstücke, Kosmetika und Kleidungsstücke für die Älteren. Die zentrale Figur war jedoch Befana, eine Frau, nicht Christus oder der Weihnachtsmann, und die Feier fand immer am Abend des Dreikönigstages statt, an Epiphanias.
    Der Kellner brachte ihren Tee.
    Daniel fragte: »›Bei uns‹? Du meinst deine Familie? Mal sehen. Da wären du und Pina, und deine Tante aus dem Pantheon…«
    »Und noch viel mehr.« Sie brachte ein Lächeln zustande. »Wir sind eine große Familie.«
    Er erwiderte das Lächeln. »Freut mich zu sehen, dass du mal nicht ganz so verängstigt dreinschaust. Also, deine Familie. Was machen deine Eltern?«
    Was sollte sie darauf antworten? Ich habe noch nie mit meinem Vater gesprochen. Meine Mutter ist hundert Jahre alt… Sie konnte ihm so vieles erzählen; sie konnte ihm gar nichts erzählen. Er war schließlich ein contadino.
    Er sah ihr Zögern und begann gewandt, von seiner eigenen Kindheit zu erzählen. Seit Vater war Diplomat, wie sie bereits wusste; er hatte eine Reihe von Posten bei der NATO und im amerikanischen diplomatischen Korps innegehabt, die in seinen sechs Jahren

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