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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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dennoch verlor sie sich im gewaltigen Labyrinth der Gebäude. Der Palast war wie eine eigene kleine Stadt, ein Trichter, in den einst die Ressourcen eines den ganzen Kontinent umspannenden Reiches geflossen waren.
    Ein Diener empfing sie in der Via Sacra an der Nordostseite des Komplexes. Sie hielt den Kopf hoch erhoben, ohne auf die bohrenden Schmerzen in ihrem Innern zu achten, fest entschlossen, keine Schwäche zu zeigen. Sie wurde durch zwei riesige Torbögen geführt, die dem Andenken an die Kaiser Titus und Domitian gewidmet waren, und fand sich in einem großen, gepflasterten Bereich wieder. Ihr Ziel war die Domus Flavia, der Palastflügel, in dem die offizielle Arbeit erledigt wurde.
    Die Domus Flavia war auf einer großen Plattform auf dem Gipfel des Hügels erbaut. Sie bestand aus etlichen Räumen, die um ein riesiges peristylium herum angeordnet waren. Die Wände und Fußböden waren mit Mosaiken und importierten Steinen in leuchtendem Gelb, Karmesinrot und Blau geschmückt, mit scharfrandigen, rechteckigen Mustern. Regina sah, dass hier viel Betrieb herrschte; Männer gingen hierhin und dorthin, diskutierten ernsthaft miteinander und schleppten stapelweise Papyrusrollen oder Wachstafeln mit sich herum. Trotz des geschäftigen Treibens wirkte alles – wie so häufig in Rom – irgendwie geschrumpft oder leer, als ob diese emsigen Männer kleiner wären als ihre Vorfahren. Sie fragte sich, wie es vor zwei- oder dreihundert Jahren gewesen sein musste, als dieses Gebäude wirklich der Nabel der ganzen Welt gewesen war.
    Der Brunnen in der Mitte des peristylium war trocken, die Schale mit Mehltau überzogen. Offenbar war er schon lange außer Betrieb. Sie musste an ihre weit zurückliegende Kindheit daheim denken; dort hatte der Brunnen auch nicht funktioniert.
    »Ich bin Gratian, Mutter.« Der Mann, der sie begrüßte, war ebenfalls hoch gewachsen. Seine Haare waren so weiß wie britannischer Schnee, und er hatte ein schmales, elegantes Gesicht mit einer kräftigen Nase. Er trug sogar eine Toga, heutzutage ein seltener Anblick. Gratian führte sie zu einem der Gebäude. Es war ein Thronsaal; er nannte ihn Aula Regia. »Setzen wir uns in den Schatten und trinken wir ein Glas Wein…«
    Gratian war Senator, ein enger Berater des Kaisers – und ein enger Verwandter. Er gehörte zu dem Klüngel reicher und mächtiger Männer, die die kaiserliche Verwaltung beherrschten: Obwohl Kaiser Romulus Augustulus zwei der mächtigsten Namen in der langen Geschichte Roms trug, war er nur ein kleiner Junge.
    War der Komplex insgesamt schon eindrucksvoll, so war der Thronsaal geradezu spektakulär. Die Wände und der Fußboden waren mit grau, orange, braun und grün gemustertem Marmor verkleidet. Vor den Wänden standen Säulen, und in Nischen erhoben sich kolossale Statuen aus nachtschwarzem Basalt. Unter dem gewölbten Dach war es trotz der Hitze des Tages merkwürdig kühl. Der Fußboden war jedoch warm; offenbar wurde er durch ein Hypokaustum geheizt. An einem Ende des Raums befand sich eine Apsis, wo der Kaiser Gesandte empfing und Audienzen gab. Heute war sie leer.
    Gratian führte sie zu einer Reihe von Liegesofas, die in einem Halbkreis standen. Dort nahmen sie Platz.
    »Falls ich beeindruckt werden soll«, sagte sie, »ich bin es.«
    Gratian zwinkerte ihr tatsächlich zu. »Es ist ein alter Trick, und kein sehr subtiler. Rom selbst war immer die mächtigste Waffe des Kaisers. Kennt Ihr die Geschichte des Palasts? Kaiser Domitian hat diese gewaltige Plattform auf dem Gipfel des Palatin geschaffen, indem er frühere Gebäude eingeebnet oder mit Gussstein gefüllt hat. Es ist, als hätten ganze Paläste nur als Fundamente für diesen mächtigen Komplex gedient…« Sein Vortrag war flüssig und geübt.
    »Mag sein«, sagte sie. »Aber diese Macht entspringt der Vergangenheit, nicht der Gegenwart.«
    Diese Bemerkung schien ihn zu überraschen. »Dennoch ist es Macht.«
    Ein Mädchen brachte ihnen Wein – aus Afrika, sagte Gratian – sowie Oliven, Brot und Obst. Regina nahm ein wenig von dem Wein, mischte ihn jedoch mit viel Wasser; Wein schien ihr dieser Tage in den Kopf zu steigen, vielleicht weil ihr Blut von dem Ding in ihrem Bauch angezogen wurde.
    »Ich nehme an«, sagte sie trocken, »dass Romulus Augustulus mich heute nicht empfangen wird.«
    »Er ist der Kaiser und ein Gott, aber auch ein kleiner Junge«, sagte Gratian sanft. »Und heute ist er bei seinem Rhetoriklehrer. Seid Ihr enttäuscht?«
    Sie lächelte.

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