Der Orden
»Ist er es?«
Das brachte ihn zum Lachen. »Mutter, Ihr seid von einem Geist beseelt, wie er in diesen schwierigen Zeiten selten ist. Ihr habt ein erfolgreiches Leben geführt – und Euren Orden dabei ziemlich reich gemacht.« Er wedelte mit der Hand. »Unsere Aufzeichnungen sind fast so gut, wie Eure es angeblich sind«, sagte er trocken. »Euer Orden leistet einen großen Beitrag für die Stadt – viel mehr als die meisten in diesen Zeiten des schwindenden Bürgersinns. Der Kaiser weiß das und möchte, dass ich Euch seinen Dank ausspreche.
Aber wir stehen vor einem ernsten Problem«, fuhr er fort. »Die Germanen sind wieder in Italien. Ihr Anführer ist ein Mann namens Odoaker: kein Rohling wie einige dieser Burschen, sondern einfallsreich und kompromisslos.«
»Wo sind Eure Legionen?«
»Wir sind woanders zu stark gebunden. Und die Steuereinnahmen gehen nun schon seit Jahrzehnten zurück. Es ist nicht mehr so leicht wie früher, eine Streitmacht aufzustellen, auszurüsten und zu besolden…« Er hob zu einer trübseligen Litanei über militärische Einsätze, Triumphe und Rückschläge sowie die Kompliziertheit und die Schwierigkeiten des Steuersystems an. Es lief darauf hinaus, dass er von Roms reicheren Bürgern und Stiftungen ein Lösegeld einwerben wollte: ein Bestechungsgeschenk, mit dem Odoaker unter minimalem Blutzoll zum Abzug bewegt werden sollte.
Nun begriff sie, was dieser dünne, elegante Mann von ihr wollte. Als sie in diesem imposanten, uralten Raum saß, umgeben von den Insignien kaiserlicher Macht, hatte sie das Gefühl, als drehte sich plötzlich die ganze Welt um sie.
So weit ist es also gekommen, dachte sie mit zunehmender Bestürzung. Dass ein Kaiser mich um Hilfe bittet: mich, die hilflose kleine Regina.
Sie hatte immer geglaubt, eines Tages würde sich alles wieder normalisieren – und die Sicherheit, die sie in ihrer Kindheit erlebt hatte, würde zurückkehren. Im Orden hatte sie einen sicheren Ort gefunden, selbst wenn sie sich »in einer Erdhöhle zusammenscharten«, wie manche sagten. Dort konnten sie abwarten, bis der Sturm sich gelegt hatte und sie gefahrlos wieder ans Licht kommen durften. Aber Rom würde sich nicht mehr erholen – das sah sie nun zum ersten Mal in ihrem Leben ganz deutlich. Der Niedergang war bereits zu weit fortgeschritten. Es würden nie wieder »normale« Zeiten kommen.
Sie war wütend. Der Kaiser und seine inkompetenten Vorgänger hatten sie im Stich gelassen – nicht anders als ihre Mutter, Amator und Artorius. Und sie hatte Angst. Solche Angst hatte sie nicht einmal gehabt, als die Vandalen in den Mauern Roms gewütet hatten. Die Zukunft brachte nichts als Dunkelheit. Und sie hatte nur den Orden. Er würde ihre Familie, ihr Blut bewahren müssen; nicht nur für eine ungewisse Übergangszeit, sondern – vielleicht – für immer.
Ich muss heim, dachte sie. Ich habe viel zu tun und nur noch wenig Zeit.
Sie stand auf und unterbrach Gratians Monolog.
Ihre brüske Art schien ihn zu verwirren. »Ihr habt mir noch keine Antwort gegeben, Mutter.«
»Bringt ihn hierher«, sagte sie.
»Wen?«
»Euren Germanen. Odoaker. Bringt ihn hierher, in den Palast. Zeigt ihm den Marmor und die Wandbehänge, die Statuen und Mosaiken. Beeindruckt ihn mit Roms Vergangenheit, wie Ihr es bei mir getan habt, vielleicht verschont er dann die Gegenwart. Darin seid Ihr gut – im Blendwerk.«
Er sah sie zornig an. »Ihr seid unnötig grausam, Mutter. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen. Und diese Aufgabe besteht darin, Rom vor Blutvergießen und vielleicht sogar vor dem Untergang zu bewahren. Ist das unehrenhaft?«
Sie spürte einen stechenden Schmerz im Magen – als ob das Ding in ihrem Bauch sich wie ein monströser Fötus umgedreht und zugetreten hätte. Unter Aufbietung aller Selbstdisziplin wahrte sie ihre aufrechte Haltung und ein ausdrucksloses Gesicht. Vor dieser Kreatur eines Kindkaisers wollte sie keine Schwäche zeigen.
Sie verließ den Palast ohne Bedauern und eilte nach Hause. Aber der Schmerz folgte ihr, ein Schatten in der Helligkeit des Tages.
33
Nach der Geburt erholte Lucia sich rasch.
Sie verstand, was sie durchmachte, und brachte ihre postnatalen Übungen für Bauch, Taille und Becken hinter sich. Ihre Gebärmutter nahm wieder ihre normale Größe an. Ihr Ausfluss beunruhigte sie nicht und ließ bald nach. Wie alles an der Schwangerschaft schien auch ihre Erholung mit erstaunlicher Geschwindigkeit vonstatten zu gehen.
Aber sie durfte
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