Der Orden
Taxi und fuhr zu den Thermen.
Diesmal ging sie um den Komplex herum, bis sie zur Kirche Santa Maria degli Angeli gelangte. Sie war im sechzehnten Jahrhundert nach Plänen von Michelangelo in den Ruinen der Thermen erbaut worden. Der Name der Kirche schmückte stolz eine der aufgebrochenen Kuppeln.
Das Innere der Kirche war hell, geräumig und offen. Der fast hundert Meter lange Raum war reich verziert. In den Fußboden war eine kunstvolle Sonnenuhr eingearbeitet, ein riesiger, bronzener Spalt, der sich durch ein Kirchenschiff zog. Sie folgte ihm zu einem komplizierten Gebilde an seinem Endpunkt, wo ein Fleck Sonnenlicht die Sonnenwenden künftiger Jahre markierte. Hier und dort sah sie Überbleibsel des ursprünglichen Gebäudes, wie Muschelmotive an den Wänden. Michelangelo und seine Architekten hatten den riesigen, überwölbten Raum gut genutzt, aber früher einmal war dies nur das tepidarium des gewaltigen Badekomplexes gewesen.
Sie hatte diesen Ort wegen Daniel gewählt. Bang hatte sie sich gefragt, wie er auf sie reagieren würde, besonders in ihrem veränderten Zustand. Sie dachte, die Thermen würden sein Interesse an der römischen Geschichte wecken, daran, wie die Gebäude benutzt und umgenutzt worden waren. Wenn nicht ihretwegen, so würde er vielleicht wegen der Gebäude kommen.
»… Lucia.«
Sie drehte sich um, und da war er. Er trug offenbar noch immer dieselben ausgeblichenen Jeans, dazu ein T-Shirt mit der Aufschrift ROSWELL U RUNNING TEAM, und er hielt eine Baseballkappe in der Hand. Das Licht hinter ihm fing die ungebärdigen Haare um sein Gesicht ein und ließ sie rot aufleuchten.
Er grinste. »Du hast dich verändert. Natürlich bist du immer noch schön. Was ist anders?«
Bei seinem Anblick und dem Klang seiner Stimme schossen ihr vor Sehnsucht, Unglück und Kummer die Tränen in die Augen. Sie ließ den Kopf sinken und barg das Gesicht in den Händen. Sie wusste nicht, wie sie reagiert hätte, wenn er zu ihr gekommen wäre und sie in die Arme genommen hätte.
Aber das tat er nicht. Als sie wieder aufschauen konnte, sah sie, dass er sogar ein paar Schritte zurückgewichen war. Er hielt sich die Baseballkappe vor den Leib wie ein Schild, mit dem er sie abwehren konnte, und sein Mund war vor Schreck kreisrund. »Hey«, sagte er unsicher. Er lachte, aber es klang schrill. »Immer mit der Ruhe. Die Leute gucken schon.«
Sie gab sich alle Mühe, ihre Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Ihr Gesicht fühlte sich wie eine durchtränkte Masse an. »Ach, die können mich mal. Selbst wenn wir in einer Kirche sind.«
Er starrte sie mit großen Augen an. Sein Mund stand immer noch offen.
»Setzen wir uns«, sagte sie.
»Okay. Okay. Gute Idee…«
Sie nahm seine Hand, damit er aufhörte zu reden, und ging mit ihm zu einer Bank im Kirchenschiff, wo die Sonnenuhr auf dem Marmorboden glänzte.
Sie setzten sich nebeneinander, abseits von allen anderen. Sie merkte, dass er sie nicht ansah; sein Blick schweifte über die Gemälde an der Wand und über den Marmorfußboden. Schließlich sagte er: »Hör mal, wenn du in Schwierigkeiten bist…«
»Warum bist du nicht gekommen?«, zischte sie.
»Was?«
»Hierher, zu den Thermen. Am Dienstag. Du bist nicht gekommen.«
»Hey«, sagte er abwehrend. »Und wenn schon. Es war nicht wichtig. Es war bloß…« Er beugte sich vor, sodass sein Gesicht von ihr abgewandt war. »Hör mal. Du musst realistisch sein. Ich bin siebzehn. Du bist ein süßes Mädchen. Na ja, und das wär’s auch so ziemlich.« Er zählte die Punkte an den Fingern ab. »Ich hab dich im Pantheon gesehen und damals im Park, und ich dachte, Teufel, was soll’s, und dann haben wir uns auf der Piazza Navona verabredet, und du bist gekommen, und dann…«
»Und dann?«
»Und dann hast du mir erzählt, dass du fünfzehn bist.« Er zuckte die Achseln. »Es waren nur ein paar Augenblicke, vor vielen Monaten. Es war nicht mal ein Date.«
»Für mich war es wichtig.«
»Tut mir Leid. Woher sollte ich das wissen?«
»Weil du mich kennen gelernt hast. Wir haben miteinander geredet.«
»Nur ein paar Minuten.«
Aber in dieser Zeit haben wir eine Verbindung aufgebaut, dachte sie. Oder nicht? Sie sah ihn wieder an, mit seinem albernen T-Shirt und seiner Baseballkappe, die auf der Holzbank neben ihm lag. Er war selbst noch so jung, erkannte sie. Er versuchte sich spielerisch an Beziehungen, am Flirten. Mehr hatte er die ganze Zeit nicht getan; selbst seine vorgebliche Ernsthaftigkeit gehörte
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