Der Orden
bei ihr. »Ich verstehe dich nicht, meine Liebe.«
»Wir können nicht überleben. Wir Alten können den Orden nicht ewig führen. Aber der Orden muss unsterblich sein. Dies ist kein kleines Imperium und darf auch nie wie eines sein. Eine Führerin kann stürzen, eine Verräterin kann uns verraten; so etwas darf es bei uns nicht geben. Die Älteren müssen in den Schatten treten, und der Rat muss so weit wie möglich auf jede Macht verzichten. Der Orden muss sich aus eigener Kraft erhalten. Niemand soll Fragen stellen. Keine von uns soll mehr wissen, als sie wissen muss, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Auf diese Weise kann jede von einer anderen ersetzt werden, wenn sie versagt, und der Orden lebt weiter. Der Orden, der aus uns allen hervorgeht, wird sich behaupten. Unwissenheit ist Stärke.«
Leda verstand es immer noch nicht. Aber Regina sah es deutlich in den Korridoren ihres versagenden Verstandes.
Um in der Zukunft fortzubestehen, brauchte man ein System: Das war die einzige unanfechtbare Lektion, die sie seit ihrer Ankunft in Rom gelernt hatte. Die Römer hatten eine natürliche Begabung für den Aufbau von Organisationen gehabt, die trotz politischer Instabilität und Korruption und all den anderen menschlichen Schwächen über Generationen hinweg funktionierten. Obwohl das Heer von Thronanwärtern und anderen Abenteurern schamlos für ihre eigenen Zwecke benutzt wurde, war es immer eine beispiellos effektive militärische Streitmacht gewesen; und obwohl Senatoren und andere das Rechtssystem für ihre eigenen Zwecke missbrauchten, hatten überall im Reich gewöhnliche und sachgerechte juristische Prozesse enorm vielen Menschen in jedem Aspekt ihres täglichen Lebens gute Dienste geleistet. Sogar die Stadt selbst hatte ihre Identität, ihre Organisation über tausend Jahre ungeplanten Wachstums bewahrt, vierzig oder fünfzig Generationen lang, denn die Stadt war ebenfalls ein System.
Systeme, ja. Und es war ein System, das sie im Lauf der Jahre hier aufzubauen versucht hatte, ihren Instinkten folgend, Stück für Stück. Ein System, das erhalten bleiben würde. Ein System, das funktionieren würde, selbst wenn die Menschen, die es am Leben erhielt, seine Existenz vergessen hatten.
Der Orden würde wie ein Mosaik sein, dachte sie – aber keines von der Art, wie sie ihr Vater erschaffen hatte. Man stelle sich ein Mosaik vor, das nicht von einem einzelnen Meisterkünstler, sondern von hundert Arbeiterinnen zusammengesetzt wurde. Man lasse sie ihre tesserae in Eintracht mit ihren Schwestern legen. Dann würde aus diesen kleinen, von Sympathie geprägten Handlungen von Schwestern, die einfach aufeinander hörten, eine größere, beständigere Eintracht entstehen. Eine Eintracht, die den Tod jeder einzelnen Handwerkerin überdauerte – denn die Gruppe war die Künstlerin, und die Gruppe überlebte die Individuen…
Man brauchte keinen denkenden Kopf, um Ordnung zu schaffen. Ein Kopf, der die Macht hatte, war wirklich das Letzte, was man wollte, wenn dieser Kopf einem ehrgeizigen Idioten wie Artorius gehörte.
»Hört auf eure Schwestern«, sagte sie.
»Regina?«
»Mehr müsst ihr nicht tun. Dann wird das Mosaik zum Vorschein kommen…«
Sie schlief ein.
35
Lucia verabredete sich mit Daniel bei den Diokletian-Thermen, einem Baudenkmal gleich nordwestlich der Stazione Termini, des römischen Hauptbahnhofs. Sie kam früh. Es war ein heißer, feuchter Augusttag, und der wolkenverhangene Himmel drohte mit Regen.
Sie ging außen um das Bauwerk herum. Diese Thermen waren im vierten Jahrhundert erbaut worden, und wie viele von Roms späteren Baudenkmälern zeigten sie der Welt in Wirklichkeit ein hässliches Gesicht, gewaltige, senkrecht aufragende rote Ziegelwände. Im Lauf der Jahrhunderte waren solche Monumente kontinuierlich ihres Marmors entkleidet worden, sodass nur noch eine Art Skelett des ursprünglichen Gebäudes übrig blieb.
Aber das Bauwerk war immer noch massiv, immer noch beständig. Ehemalige Innenmauern waren jetzt außen, und sie konnte die Konturen von Kuppeln erkennen, die aufgebrochen waren wie Eier. Die exedra, einst ein geschlossener, von Säulengängen und Bänken gesäumter Raum, in dem sich Bürger zum Gespräch versammelt hatten, war zu einem im Verkehr erstickenden Platz geworden.
Es fing an zu regnen. Sie bezahlte ein paar Euro Eintritt für das Museum, das in den Thermen eingerichtet worden war.
Es waren nur wenige Touristen da. Gelangweilte Museumswärter saßen auf
Weitere Kostenlose Bücher