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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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diesen Entscheidungen entsteht die umfassende Struktur der Kolonie. Dieser soziale Aufstieg ist übrigens das Erfolgsgeheimnis der sozialen Insekten. Wenn ein einzelnes Tier eine Aufgabe nicht ausführt, dann bleibt sie unerledigt. Aber wenn bei den Ameisen eine Arbeiterin eine Aufgabe nicht ausführt, dann kommt garantiert eine andere daher und erledigt sie. Selbst der Tod einer individuellen Arbeiterin ist ohne Bedeutung, weil immer eine andere ihren Platz einnimmt. Ameisenkolonien sind effizient.
    Was zählt, ist jedoch nicht die Königin, sondern die Kolonie. Das ist der Organismus, ein diffuser Organismus mit vielleicht einer Million winziger Mäuler und Körper… Körper, die sich so organisieren, dass ihre winzigen Aktionen und Interaktionen zusammen das Gesamtverhalten der Kolonie selbst ergeben.«
    »Ein Ameisenhügel ist also wie ein Verkehrsstau«, riet ich. »Emergent.«
    »Ja. Emergenz ist die Funktionsweise eines Ameisenhügels. Jetzt müssen wir über Gene reden, die Ursache dafür, dass er funktioniert.« Schon legte er wieder los, und ich bemühte mich, ihm weiterhin konzentriert zu folgen.
    »Soziale Insekten haben drei grundlegende Merkmale.« Er zählte die Punkte an den Fingern ab. »Viele Individuen arbeiten bei der Betreuung der Jungtiere zusammen – nicht nur die Eltern, wie etwa bei den meisten Säugetieren. Zweitens, die Generationen überlappen sich. Kinder bleiben daheim und leben bei ihren Eltern und Großeltern. Drittens, es gibt eine Arbeitsteilung bei der Reproduktion…«
    »Neutren«, sagte ich.
    »Ja. Arbeiterinnen, die ihr Leben lang unfruchtbar bleiben und den Brüterinnen dienen.«
    Ich begann zu ahnen, worauf das hinauslief. Ich wollte es nicht hören. Furcht sammelte sich in meiner Magengrube. Ich setzte mir die Bierflasche an den Hals und trank zu schnell. Als ich wieder zu Peter zurückkam, sprach er gerade über Darwin.
    »… Darwin selbst betrachtete die Ameisen als eine große Herausforderung für seine Evolutionstheorie. Wie können sich unfruchtbare Arbeiterinnenkasten entwickeln, wenn sie keine Nachkommen hinterlassen? Ich meine, das Leben dient doch im Grunde nur dem Zweck, die Gene weiterzugeben – oder nicht? Wie soll das gehen, wenn man ein Neutrum ist? Nun, die natürliche Auslese arbeitet auf der Ebene der Gene, nicht der Individuen.
    Als Neutrum verzichtest du auf deine Chance, Töchter zu bekommen, aber dadurch hilfst du Mami, weitere Schwestern zu produzieren. Warum machst du das? Weil es in deinem genetischen Interesse ist. Sieh mal, deine Schwestern haben die Hälfte deiner Gene mit dir gemeinsam, weil du von denselben Eltern geboren wurdest. Deine Nichten sind also nicht so eng mit dir verwandt wie deine eigenen Töchter. Aber wenn du zölibatär bleibst und dadurch die Anzahl deiner Nichten verdoppeln kannst, hast du hinsichtlich der weitergegebenen Gene mehr davon. Auf lange Sicht gewinnst du die genetische Lotterie.
    Bei Ameisen sind die Zahlen anders. Sie geben ihre Gene auf andere Weise weiter als Säugetiere – wenn du eine Ameise bist, ist deine Schwester dir genetisch tatsächlich näher als deine Tochter! –, deshalb sind sie für diese Art von Gruppenleben prädisponiert, und das ist zweifellos der Grund dafür, weshalb es bei den Insekten so früh und so häufig vorgekommen ist. Aber das Prinzip ist dasselbe.
    Eine Ameisenkolonie ist keine Diktatur, George, und auch kein kommunistisches Utopia. Sie ist eine Familie. Sie ist das logische Ergebnis einer hohen Bevölkerungsdichte und einer feindlichen äußeren Umgebung. Manchmal zahlt es sich aus, daheim bei Mami zu bleiben, weil es sicherer ist – aber man braucht eine soziale Ordnung, um mit dem Bevölkerungsdruck fertig zu werden. Also hilfst du Mami bei der Aufzucht deiner Schwestern. Das ist hart, aber es ist ein stabiles System; Emergenz lässt die Kolonie als Ganzes funktionieren, es gibt einen genetischen Lohn für alle, und sie kommen prima klar… Die Biologen nennen diese Lebensweise ›Eusozialität‹ – ›eu‹ kommt aus dem Griechischen und bedeutet ›perfekt‹.«
    »Eine perfekte Familie? Also, das ist nun wirklich furchteinflößend.«
    »Aber sie ist anders als eine menschliche Familie. Dieses genetische Kalkül hat nicht viel mit herkömmlicher menschlicher Ethik zu tun… Jedenfalls bis jetzt noch nicht«, sagte er geheimnisvoll. »Und es sind nicht nur Ameisen.« Er spielte seine Trumpfkarte aus. »Denk an die Nacktmulle.«
    Ich hatte das Bier ausgetrunken. Peter

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