Der Orden
meinem Geld einen Wagen gemietet. Er wartete auf der Cristoforo Colombo auf mich, vor dem Büro des Ordens. Zu meinem größten Entsetzen bestand er darauf, mit mir spazieren zu fahren.
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»Ich hatte alle möglichen Theorien. Im Grunde dachte ich, der Orden wäre einfach nur eine abgedrehte religiöse Sekte. Als wir dann Lucia kennen gelernt und etwas über diese Pina erfahren haben, kam mir der Gedanke, ob es so eine Art bizarrer psychosexueller Organisation sein könnte, vielleicht mit einem religiösen Rahmen als Rechtfertigung. Aber nachdem du mir jetzt erzählt hast, was du dort unten vorgefunden hast, George – und nachdem ich es mit einigen Slan(t)ern diskutiert habe –, glaube ich, dass ich endlich dahinter gekommen bin.
Bei dem Orden geht es nicht um Religion, Sex oder Familie. Es geht um nichts von dem, was seine Mitglieder glauben – sie wissen es nicht, ebenso wenig wie eine einzelne Ameise weiß, wozu eine Ameisenkolonie da ist. Der Orden existiert um seiner selbst willen.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, sagte ich.
»Das weiß ich. Also hör zu.«
Wir fuhren geradewegs aus der Stadt, bis wir auf die äußere Ringstraße trafen, die GRA. Bald darauf standen wir in einer langen Schlange von Autos, deren Dächer und Windschutzscheiben wie die Panzer metallener Insekten in der Sonne glänzten. Selbst zur besten Zeit ist diese Straße ein lang gestreckter Parkplatz, und jetzt steckten wir mitten im feierabendlichen Stoßverkehr. Wir schoben uns zentimeterweise voran. Peter stand den hiesigen Profis in nichts nach; er eroberte sich die kleinsten Lücken, drückte auf die Hupe und arbeitete sich durchs Gedränge. Ich hätte Angst um meine Sicherheit gehabt, wenn wir nicht so langsam gefahren wären.
Der Wagen war ein zerbeulter alter Punto. Ich war mit den Gedanken immer noch voll und ganz bei der Krypta und fühlte mich völlig desorientiert. »Dieser Wagen gehört dem pakistanischen Botschafter.«
Er sah mich merkwürdig an. »Oh. Michael Caine. Den Film habe ich auch gesehen.«
»Du willst auf etwas Bestimmtes hinaus, stimmt’s?«
»Verdammt richtig«, sagte er. »Zunächst wirst du’s nicht verstehen. Und wenn du’s dann doch verstehst, wirst du mir wahrscheinlich nicht glauben.« Er umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß waren, und er schwitzte. »Also muss ich es dir zeigen. Es ist vielleicht wichtiger, als du dir vorstellen kannst.«
Ich lächelte. »Wichtig. Und das aus dem Munde eines Mannes, der glaubt, dass Raumschiffe von Außerirdischen Kehrtwenden im Erdkern machen. Was könnte im Vergleich dazu wichtig sein?«
»Mehr, als du ahnst«, sagte er. »George, wodurch werden Verkehrsstaus verursacht?«
Ich zuckte die Achseln. »Na ja, man braucht eine stark befahrene Straße. Baustellen. Liegen gebliebene Autos.«
»Was für Baustellen?«
Vor uns waren keine Baustellen, keine liegen gebliebenen Autos, keine Unfälle. Und trotzdem standen wir.
Peter sagte: »Für einen Verkehrsstau braucht man nur Verkehr, George. Die Staus bilden sich einfach. Schau dich um. Der gesamte Verkehr besteht aus einzelnen Fahrern – richtig? Und jeder von uns trifft permanent individuelle Entscheidungen, die auf den Aktionen unserer Nebenleute basieren. Keiner von uns hat die Absicht, einen Stau zu erzeugen, so viel steht fest. Und keiner von uns hat einen Überblick über den Verkehr, wie man ihn zum Beispiel von einem Polizeihubschrauber aus hätte. Es gibt nur die Fahrer.
Dennoch entsteht aus unseren in Unwissenheit getroffenen individuellen Entscheidungen der Verkehrsstau, eine riesige organisierte Struktur, die vielleicht tausende von Fahrzeugen umfasst. Also, woher kommt der Stau?«
Mittlerweile kamen wir dann und wann ein bisschen voran, aber Peter nahm beängstigenderweise den Blick von der Straße und sah mich an, um festzustellen, ob ich verstanden hatte.
»Ich weiß es nicht«, gab ich zu.
»So etwas nennt man Emergenz, George«, sagte er. »Aus der Anwendung simpler Regeln auf niedriger Ebene, also etwa aus den Entscheidungen der Fahrer auf dieser verdammten Straße – und mithilfe verstärkender Rückkopplungen, wie zum Beispiel langsamer werdender Wagen, hinter denen sich eine Schlange bildet –, können große Strukturen entstehen. Das nennt man selbst organisierte Kritikalität. Der Verkehr versucht stets, sich so zu organisieren, dass möglichst viele Autos durchkommen, ist aber beständig kurz vor dem Zusammenbruch. Die Staus sind
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