Der Orden
bestellte mir noch eins.
Wie sich herausstellte, waren Nacktmulle extrem hässliche kleine Nagetiere – Peter zeigte mir Bilder auf seinem Handheld –, die in unterirdischen Kolonien unter den afrikanischen Wüsten leben. Sie haben nackte, faltenlose Haut, und ihre Körper sind kleine, dicke Zylinder, damit sie in ihre dunklen unterirdischen Gänge passen.
Die Lieblingsnahrung der Nacktmulle sind Wurzelknollen, die sie ausgraben müssen. Aber die Wurzeln sind weit verstreut. Obwohl sie unter der Oberfläche in beengten Verhältnissen leben, ist es für sie darum besser, wenn sie viele kleine Mulle statt ein paar große erzeugen, denn viele kleine Helfer, die sich auf der Suche nach den Wurzeln durchs Erdreich graben, haben eher Erfolg als einige wenige.
»Genau die Bedingungen, unter denen man mit der Entwicklung von Eusozialität rechnen kann«, sagte Peter. »Eine Situation, in der man gezwungen ist, mit hoher Bevölkerungsdichte und begrenzten Ressourcen zu leben…«
Mulle leben in Rudeln – und in jeder Kolonie von vielleicht vierzig Individuen gibt es immer nur ein einziges Brutpaar. Die anderen Männchen lassen einfach die Hose zu, aber die anderen Weibchen sind funktionell steril. Die ›Königin‹ sorgt durch ihr Verhalten dafür, dass es so bleibt, indem sie die Weibchen permanent schikaniert.
Die Arbeiter haben sogar spezialisierte Rollen – Nestbau, Graben, Nahrungstransport. Ein Mull durchläuft mit zunehmendem Alter mehrere Rollen und entfernt sich dabei allmählich vom Zentrum. »Bei manchen Ameisen ist es genauso«, sagte Peter. »Die Jungen dienen im Innern des Nests, wo sie solche Aufgaben wie die Nestreinigung übernehmen. Wenn sie älter werden, dienen sie draußen, vielleicht indem sie das Nest bauen oder reparieren, oder indem sie nach Nahrung suchen…«
Bei den Mullen läuft alles bestens, bis die Königin Anzeichen dafür zeigt, dass sie bald vom Thron fallen könnte. Auf einmal entwickeln die sterilen Arbeiterinnen sexuelle Merkmale, und es gibt einen blutigen Nachfolgekampf – und der Preis für die Siegerin ist nichts Geringeres als die Chance, ihre Gene weitergeben zu können.
»Deshalb werden die alten Knacker an den Rand der Kolonie gedrängt«, sagte Peter kalt. »Sie stehen an vorderster Front, wenn ein Schakal einen Tunnel aufgräbt – aber sie sind entbehrlich. Im Zentrum will man die Jungtiere haben, weil sie dort rasch als Ersatz für die Fortpflanzungsfähigen eingesetzt werden können. Die Alten opfern sich jedoch durchaus bereitwillig für die Gruppe. Das ist ein weiteres eusoziales Merkmal -Selbstmord, um andere zu schützen.
Du verstehst, was ich sagen will. Die Mulle sind eusozial«, sagte er. »Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Genauso eusozial wie jede Ameise, Termite oder Biene – aber sie sind Säugetiere.«
Er ließ sich weiter über Mulle und andere Säugetiere aus, bei denen man Spuren von Eusozialität festgestellt hatte – Jagdhunde in der Wüste zum Beispiel. Ein Detail verblüffte mich. Die Mulle schwärmten in ihren labyrinthischen Bauten aus und drängten sich zusammen, um die Luftströme in den Gängen zu kontrollieren. Es stellte sich genau so dar wie in der Krypta, obwohl ich ihm nichts von Rosas antikem Ventilationssystem erzählt hatte.
Mittlerweile wusste ich genau, worauf er hinauswollte. Mir war kalt.
»Säugetiere, aber keine Menschen«, sagte ich mit schwerer Stimme. »Und Menschen treffen Entscheidungen, wie sie leben wollen, Peter. Rationale und moralische Entscheidungen. Wir sind Herren über uns selbst, wie es kein Tier sein kann.«
»Ach wirklich? Und was ist mit diesem Verkehrsstau?«
»Peter – komm zum Punkt. Vergiss die Mulle. Sprich über den Orden.«
Er nickte. »Dann müssen wir über Regina sprechen, deine Urururgroßmutter. Mit ihr hat nämlich alles angefangen.«
In jenen ersten paar turbulenten Dekaden war die Gruppe von Frauen, die sich in ihrer Grube unter der Via Appia zusammengedrängt hatten, in der gleichen Situation gewesen wie eine Gruppe Nacktmulle draußen in der Savanne – so lautete jedenfalls Peters Analyse. Während das kaiserliche Rom um sie herum zerfiel, war es erheblich sicherer für die Töchter, daheim bei ihren Müttern zu bleiben und die Krypta zu erweitern, statt auszuwandern.
»Es herrschte also genau dieselbe Art von Ressourcen- und Bevölkerungsdruck wie in einer Mullenkolonie.«
Ich runzelte die Stirn. »Aber Regina hätte niemals die Entscheidung getroffen, eine
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