Der Osmanische Staat 1300-1922
Führer der Armenier erklärte jedoch
ihre Loyalität mit dem jungtürkischen Regime. Die Erhebung der armenischen
Einwohner von Van (20. 4. bis 17.5. 1915) löste in der Hauptstadt eine Aufstandspsychose aus. Wenige Tage später kam es zu ersten Verbannungen prominenter Armenier aus Istanbul. Am 27. 5. beschloß der Ministerrat ein „vorläufiges Gesetz", das fünf Tage später im Staatsanzeiger veröffentlicht wurde. Es
erlaubte den Militärbefehlshabern die individuelle und kollektive (müctemian/
conjointement) Vertreibung und Umsiedlung der Bevölkerung (sevk ve iskän/
deplacer et installer) einzelner Dörfer und Städte aus militärischen Notwendigkeiten und beim Verdacht (!) auf Verrat oder Spionagetätigkeit. In einem
Ministerratsprotokoll vom 30. 5. waren ausführliche Regelungen für eine „geordnete" Verschickung der - hier beim Namen genannten - Armenier in ihre neuen Siedlungsräume enthalten. Die dort genannten Vorkehrungen für die
persönliche und materielle Sicherheit der „Umsiedler" (muhäcir) blieben auf
dem Papier. Die Umsiedlungen betrafen nicht nur Armenier im Bereich der
russisch-osmanischen Front, sondern auch die Bevölkerung in Zentral- und
Westanatolien. Die Angaben über die Opfer schwanken zwischen 600 000 und
mehr als einer Million. Protestantische und römisch-katholische Armenier
wurden, wenn auch nicht vollständig, verschont. Die Istanbuler Führung nahm
die Deportationen in Kauf, wohl wissend, daß eine geordnete Umsiedlung während des Krieges angesichts der Landesnatur und einer weithin den Armeniern
feindlich gesonnenen kurdischen Mehrheit nicht durchführbar war. Nur wenige
erreichten die obermesopotamischen und syrischen „sicheren Siedlungen" (wie
Dair az-Zor). Deutsche militärische und zivile Beobachter blieben weithin passiv,
wenn es auch gelang, die armenischen Angestellten der Bahnbauunternehmen vor
der Verschickung zu bewahren. Am 31. 8. 1916 erklärte Talat Pascha dem
deutschen Botschaftsvertreter „La question armenienne n'existe plus".
Die assyrische Gemeinde (seit 1844 als millet anerkannt) mußte die Zusammenarbeit ihrer Führer mit den vordringenden Russen im Herbst 1914 besonders
teuer bezahlen, als diese Orte wie Urmia und Salmas im Januar 1915 ohne Vorwarnung räumten. Von Deportationen wurden auch griechische Bevölkerungsteile während des Weltkriegs nicht verschont. Griechen aus Tirebolu/Tripolis am Schwarzen Meer wurden ins Landesinnere verschickt.
Die arabische Front
Die beiden deutsch-osmanischen Suezkanal-Expeditionen (Februar 1915, August 1916) konnten den Vormarsch anglo-indischer Truppen, der über Mesopotamien erfolgte, nicht beeinflussen. Kut-el-Amara (29.4. 1915) war ein Einzelerfolg, an dem der Zufall den größten Anteil hatte. Auf osmanischer Seite waren
die Verluste durch Gefallene, Verwundete, Gefangene und geschätzte 500000
Deserteure riesig. Der Anteil türkischer Soldaten war im Laufe der Kämpfe
immer stärker zugunsten der Araber zurückgegangen. Ein brutales Regime in
der syrischen Etappe stärkte die arabische Opposition. England hatte dem
Scharifen Husain Hoffnungen auf ein arabisches Königreich südlich des
37. Breitengrads gemacht (Briefwechsel mit dem britischen Hochkommissar in
Ägypten MacMahon), ohne die arabische Seite mit dem Inhalt des Svkes-PicotAbkommen (16.5. 1916) vertraut zu machen, das eine Aufteilung des Ostens
zwischen England und Frankreich vorsah. Aufstände der Schiften des Irak und
der Alawiten in Syrien folgten auf die Erhebung des Scharifen im Hedschas.
Rußland
Im Sommer 1916 hatte die russische Armee Erzurum, Erzincan und Trabzon
eingenommen. Trotz gewaltiger Nachschubprobleme und allgemeiner
Kriegsmüdigkeit wäre sie in der Lage gewesen, den Zusammenbruch der dezimierten türkischen Truppen herbeizuführen. Der Sturz des Zarenregimes führte
aber zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk (3. März 1918) zwischen
Deutschland, Österreich-Ungarn, der Türkei, Bulgarien und Sowjetrußland. In
einem Anhang zum Vertragswerk wurde die Grenze Rußlands wieder auf den Stand von 1877/78 unter Einschluß der Provinzen Ardahan, Kars und Batum
zurückgenommen.
I)as Kriegsende
Entscheidend war der englische Vormarsch in Mesopotamien (Fall Bagdads)
und Palästina (Einnahme Jerusalems) im vierten Kriegsjahr 1917. Die Belastung
des Mehrfrontenkriegs in Verbindung mit Hungersnöten, Typhus, Steuerlasten
und Inflation wurde durch das Bündnis mit Deutschland (Staatsbesuch
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