Der Osmanische Staat 1300-1922

verfügte nach 1909 über außerordentliche Vollmachten
als Generalinspekteur von drei Armeebezirken. Nach der direkten Machtübernahme, die das Komitee 1913 vollzog, wurde Mahmüd $evket Großwesir.

    Während des ersten Balkankriegs fiel der entschieden prodeutsche Militär einem
Attentat zum Opfer.
    Reformen
    Das Grundgesetz von 1876 wurde 1909 in wesentlichen Teilen verändert.
Insbesondere erhielt das Parlament das Recht, Gesetze einzubringen. Die Regierung war erstmalig der Kammer verantwortlich. Wichtige Einzelgesetze
konnten verabschiedet werden (zum Versammlungs- und Streikrecht, zur Presse
und zum Druckwesen sowie ein Vereinsgesetz). Bestrebungen, durch eine
Agrarreform die Lage der landlosen Bauern zu verbessern, mußten jedoch bald
fallengelassen werden. Erst während des Weltkriegs wurden weitere Reformgesetze erlassen wie etwa ein Familiengesetzbuch (1917), das teilweise mit islamischen Gepflogenheiten brach. Schon 1916 verlor der Scheichülislam seinen
Sitz im Ministerrat. Die religiösen Gerichtshöfe wurden dem Justizministerium,
die Stiftungsverwaltung dem Finanzministerium unterstellt. Wesentliche Leitvorstellungen des Kemalismus waren also offensichtlich vor 1918 angelegt und
erfuhren später lediglich eine Beschleunigung und Radikalisierung.
    Annexions-Krise
und Boykottaktionen
    Mehrere Staaten nutzten die Turbulenzen des Regimewechsels, um die neue
Regierung vor vollendete Tatsachen zu stellen. Das Fürstentum Bulgarien erklärte
am 5. 10.1908 seine völlige Unabhängigkeit von Istanbul. Rußland versuchte,
allerdings vergeblich, den Status der Meerengen zu seinen Gunsten zu verändern. Österreich-Ungarn vollzog unter Brüskierung Rußlands die Annexion des
seit 1878 besetzten Bosnien-Herzegowina. Die osmanische Seite reagierte mit
einem unerwartet erfolgreichen Boykott österreich-ungarischer Waren und
Dienste. Die offensichtlich von Saloniki, dem Sitz des Komitees, gesteuerte
Aktion erreichte die meisten Hafenstädte in allen Reichsteilen und dauerte fünf
Monate. Ein vergleichbarer Boykott richtete sich gegen griechische Waren nach
der 1908 angekündigten Vereinigung (Enosis) von Kreta mit dem Mutterland. An
Frankreich wurde im selben Zusammenhang eine Warnung gerichtet. Die Rückgabe des im Berliner Vertrag Österreich-Ungarn unterstellten „Sandschak" von
Novipazar an Istanbul war eine unzureichende Kompensation für die Annexion
Bosnien-Herzegowinas.
    Tripolitanien,
Italienischtürkischer Krieg
    Die Türken hatten erst nach 1835 die teilweise Kontrolle über die Cryenaika
und Tripolitanien wiedergewonnen. Es dauerte weitere 24 Jahre, bis sie fester an
der Küste und einigen Punkten des Hinterlands etabliert waren. Die nordafrikanischen Provinzen waren seit 1711 von den Karamanlis, einer quasi-autonomen Janitscharen-„Dynastie", verwaltet worden. Im Binnenland war die
Bruderschaft der Sanüsi, die auf das engste mit den Beduinen verbunden war,
ausschlaggebend. Man hat deshalb von einer Art Kondominium zwischen
Sanüsiya und Osmanen gesprochen. Unter Sultan Abdülhamid II. war die dritte
nordafrikanische Provinz Fezzän ein bevorzugter Verbannungsort. Italien blickte
nach der Inbesitznahme Marokkos durch Frankreich als verspätete Imperialmacht
auf die afrikanische Gegenküste. Die Auswirkungen der gewaltsamen Aneignung
von Tripolis (Trablusgarb) und Cyreneika (Bengazi) durch Italien ab Oktober 1911 waren weitreichender als der militärische Aufwand. In den beiden nordafrikanischen Provinzen standen nicht mehr als 3400 Mann osmanischer Truppen.
Obwohl die von Rom entsandten Kontingente bedeutender waren, gelang die
Unterwerfung des riesigen Raums erst in den dreißiger Jahren. Italien mußte zu
anderen Mitteln greifen. Die Besetzung der Inseln des Dodekanes (April-Mai
1912) machte jedoch keinen zu starken Eindruck auf Istanbul, und vor weiter
reichenden Maßnahmen (etwa der Bombardierung von Izmir) schreckte Rom mit
Blick auf Österreich-Ungarns Expansionsziele auf dem Balkan zurück. Italien
verweigerte auch nach dem Friedensschluß beharrlich die Rückgabe der Inseln mit
dem (teilweise berechtigten) Hinweis darauf, daß sich die Türken nicht vollständig
aus den (erst 1934 Libia genannten) Provinzen zurückgezogen hätten.

    Jemen
    Die folgenden Ereignisse zeigten, daß das Europäische Konzert" nicht mehr in
der Lage war, den Frieden zu bewahren und den Zusammenhalt des OsmanenStaats in Europa zu garantieren. 1911 wurde der osmanische