Der Osmanische Staat 1300-1922
Wilhelm II. im September 1917) nicht entscheidend vermindert. Die osmanische
Armee war auf etwa ein Fünftel ihrer Sollstärke zusammengeschrumpft. Der
vom Kommandanten der englischen Mittelmeerflotte Calthrorpe und einer türkischen Delegation unter dem Marineminister Ra'üf Bey am 30. Oktober 1918 auf
einem Kriegsschiff in der Bucht von Mudros (Lemnos) unterzeichnete Waffenstillstand beendete einen Krieg, der für die türkische Seite die Verlängerung
von drei vorausgegangenen (Jemen, Balkan) war. Die Türkei hatte die Meerengen
sofort zu öffnen und ihre Besetzung durch die Alliierten zuzulassen. Ihre Truppen
in Asien und Afrika hatten sich den nächstgelegenen alliierten Kommandanten
bzw. Garnisonen zu ergeben. Alle deutschen und österreich-ungarischen Soldaten
und Zivilbeamten mußten innerhalb eines Monats den Staat verlassen. Der
amerikanische Präsident Wilson hatte in seiner Rede vom B. Januar 1918 u. a. die
„nationale Autonomie der nichttürkischen Völker des Osmanischen Reiches"
gefordert. Die alliierte Besetzung Istanbuls, die Aufteilung Anatoliens in Einflußzonen und das Friedensabkommen von Sevres schienen das Schicksal der
Türkei zu besiegeln. Der daraufhin von Mustafä Kemäl organisierte anatolische
Widerstand endete mit der Vertreibung der griechischen Invasoren, dem Austausch der muslimischen und christlichen Bevölkerungsteile Griechenlands und
der Türkei, der Abschaffung des Sultanats (1922 Flucht des letzten Monarchen
Mehmed VI. Vahideddin, der Ausrufung der Republik (1923) und der Ausweisung
des Kalifen Abdülmecid (1924).
Auf die Dauer, hatte es sich als unmöglich erwiesen, ein „Reich" zusammenzuhalten, dessen Bevölkerung weder Religion, noch Sprache, Kultur oder
Wirtschaftsleben gemeinsam hatte. Schon im späten 19. Jahrhundert war die de
facto-Teilung des Osmanischen Staates weithin akzeptiert. Klarsichtige Türken
hatten rechtzeitig erkannt, daß die Zukunft in Anatolien lag.
E. DER HOF UND DIE ZENTRALVERWALTUNG
Thronfolge
Das von Mehmed II. (1451-1481) erlassene Gesetzbuch (känün-näme) sah die
Thronfolge des Sohnes vor, dem die Herrschaft „zufiel" (ve her kimesneye
evlädimdan saltanata müesser ola), und gestattete den Brudermord, wenn es die
„Ordnung der Welt" (nizäm-i ülem) erfordere. Es kam also für die Prinzen darauf
an, rechtzeitig Verbündete im Heer (Janitscharen), der Verwaltung, unter den
ulemä, aber auch im Palast zu gewinnen und im Wettlauf in die Hauptstadt und
auf den Thron erster zu sein. Wähend die osmanischen Juristen Argumente für
diese Praxis beibrachten, war die Tötung unschuldiger Prinzen durch das Religionsgesetz nicht zu rechtfertigen. Nach dem Tod Ahmed I. (1617), endgültig nach
der Absetzung Mehmed IV. (1687) setzte sich das Seniorat (ekberiyet) durch. Eine
Thronfolgeregelung zugunsten des ältesten Sohns hat erst die Verfassung von 1876
getroffen.
Mehmeds känün-näme bestimmte drei große Aufgabengebiete. Für die
„weltlichen Angelegenheiten" war der Großwesir zuständig, um das Finanzwesen kümmerte sich der defterdär, die Heeresrichter (kadeasker) waren für die
Durchsetzung des kanonischen Rechtes verantwortlich. Im 16. Jahrhundert betonte der Scheichülislam Ebussuüd Beschränkungen der absoluten Macht: „Es
kann kein sultanischer Befehl bei ungesetzlichen Sachen gelten!".
Thronantritt
Ein neuer Sultan pflegte bei seinem Thronantritt (cülüs) die Huldigung (bi`at)
der hohen Amtsträger entgegenzunehmen. Die Zeremonie der Schwertumgürtung wird erst für das 17. Jahrhundert überliefert, während der Besuch
der Grabmoschee des Prophetengefährten Eyüp ursprünglich ein Ritual war,
das einem Feldzug vorausging (zuerst für 1514 belegt), später aber Bestandteil
der Einsetzung eines neuen Sultans wurde. Beim Besuch der Freitagsmoschee
zeigte sich dieser in der Öffentlichkeit und nahm bei dieser Gelegenheit auch
Beschwerde- und Bittschriften entgegen.
Harem
Im Harem der Herrscher spielte die Mutter (milide) eine herausragende Rolle.
Die legitimen Gattinen (hässeki, kadin efendi) waren bis in die Zeit Mehmed II.
zum großen Teil Töchter bekannter christlicher und muslimischer Familien. Der
Chef der Schwarzen Eunuchen (Kizlar Agasz) übernahm Ende des 16. Jahrhunderts die Kontrolle über die Stiftungen der Sultane, später auch die anderer
Mitglieder des Hauses Osmän.
Der Sultan (türk. meist pädijäh, aber auch bey, hän, häkän, hüdävendigär und
sogar kayzer) griff
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