Der Pakt - Rügen Thriller
die Lottoziehung anstand oder dümmlich grinsende Nachrich tensprecher die neuesten Zahlen aufsagen wollten, zappte er sofort weiter. Montags und donnerstags überblätterte er beim Zeitunglesen die Seite mit den Ergebnissen der letzten Ziehung. Wenn der Jackpot größer wurde, ließ er vorsichtshalber auch das Radio aus. Er wollte nicht hören, dass die vielen Millionen wieder einmal nach Nordrhein-Westfalen gegangen waren, wie praktisch jeder zweite Hauptgewinn. Oder dass irgendwelche Kegelbrüder aus Bayern den Jackpot geknackt hatten.
Er selbst hatte natürlich nie etwas gewonnen. Im Laufe der Jahre waren etliche Dreier unter seinen Zahlen gewesen, ab und zu sogar ein Vierer, jedoch nichts, was man ernsthaft als Gewinn bezeichnen konnte. Bis vor acht Wochen. Er hatte sich freigenommen, weil er den Heizungsklempner erwartete.
»Haben Sie schon gehört?«, hatte ihn die Verkäuferin leutselig gefragt, als er morgens beim Bäcker ein paar Brötchen holen wollte. »Drüben bei Schuchs ist der Tipp abgegeben worden, der den Jack pot geknackt hat.«
Das Ehepaar Schuch führte einen der beiden Tante-Emma-Läden des Ortes. Sie verkauften Lebensmittel und Waschpulver, Tabak und Zeitungen. Und Hoffnung. Tino Rücker war dort Stammkunde.
Seine Augen wurden schmal. Bislang hatte er nicht einmal gewusst, dass der Jackpot überhaupt geknackt worden war.
Und ausgerechnet in meiner Annahmestelle?
Soeben hatte sich seine Chance auf einen Millionengewinn dramatisch erhöht. Von eins zu hundertvierzig Millionen auf eins zu …? Rückers Gedanken rasten. Vielleicht eins zu tausend? Oder eins zu hundert? Wie viele Lottoscheine wurden bei den Schuchs denn abgegeben? Er hatte nicht die geringste Ahnung.
»Über achtzehn Millionen waren im Topf«, sagte die Verkäuferin seufzend. »Können Sie sich das vorstellen? Achtzehn Millionen Euro! Irgendeiner aus dem Dorf hat das ganz große Los gezogen.«
Einer aus dem Dorf.
Rücker schluckte. Aus dem dünnen Pflänzchen Hoffnung war binnen weniger Atemzüge eine stattliche Pflanze geworden, mit einem festen grünen Stiel und wunderschönen Knospen.
Zu Hause nahm er sich die Thüringer Allgemeine und suchte nach den Gewinnquoten. Richtig, da stand es: Ein Tipper aus Goldbach hatte den Jackpot geknackt. Den größten dieses Jahres.
18.275.388,45 Euro.
Natürlich verbreitete sich die Nachricht im Ort wie ein Lauffeuer. Beim Fleischer, in der Agrargenossenschaft, in der Rücker arbeitete, und abends in der Kneipe gab es nur ein Thema: Wer ist der Glückliche? Wer hat all das Geld abgeräumt? Zwar besaßen die Schuchs etliche Kunden, die immer dieselben Zahlen nahmen. Aber von denen schien es keiner zu sein. Jedenfalls sickerte kein Name durch. Rücker, der stets Zufallstipps spielte, wurde von einigen Kollegen und Freunden gefragt, schüttelte aber stets bedauernd grinsend den Kopf.
Nein, ich bin‘s leider nicht.
Das war nicht gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Denn der Lottoschein lag immer noch ungeprüft zu Hause in einer Schublade.
Jeden Morgen stand Rücker wie gewohnt um vier Uhr fünfzehn auf, wusch und rasierte sich und kämmte sein strähniges Haar. Dann fuhr er zur Agrargenossenschaft Krahnberg, bei der er seit fast zwanzig Jahren in Lohn und Brot stand. Wartungsarbeiten an der Biogasanlage, die Betreuung der Mutterkühe, Kartoffel- und Rübentransporte – Rücker tat genau das, was er sein ganzes Leben getan hatte, acht Stunden am Tag. Danach ging er meist in den Anker, eine Kneipe, die sich gleich neben dem Laden der Schuchs befand. Hier trank er sein Feierabendbier. Ein Dunkles, nichts ande res und auch niemals ein zweites. Wenn am Stammtisch Zehn-Cent-Skat gespielt wurde, sah er nur zu. Kam das Gespräch auf den geheimnisvollen Lottogewinner, beteiligte er sich pflichtgemäß an den neidischen Spekulationen, wer der Glückliche sein könne. In der Zeitung hatte gestanden, es habe sich noch niemand bei der Lottogesellschaft gemeldet.
Wer außer mir ist so verrückt, seinen Lottoschein tagelang liegen zu lassen?
Rückers Hoffnung wuchs und wuchs und wärmte ihn an den kälter werdenden Tagen.
4
Die Killerin hörte, wie draußen ein Servierwagen vorbeirollte. Auf dem Display ihres Smartphones tauchte ein in Weiß und Schwarz gekleideter Kellner auf, der den Wagen beflissen in Richtung der Suiten schob. Sie vermutete, dass es sich um das Abendessen für Richter Kirijenko und seinen Gast handelte.
Der in die Wand eingelassene schwarze Flurschrank mit
Weitere Kostenlose Bücher