Der Papalagi
auch jene Überzeugungskraft, die das Leid der Mitmenschen sieht und über die Kraft verfügt, es greifbar – und nicht naiv – zu beschreiben.
Das Buch kann anregen, die Probleme besser verstehen zu wollen, die wir – bisher – glaubten auslassen zu können: Wohnen, Fahren, Profit, Leistung, Freiheit, Arbeit und Arbeitsplatz, Leben, Lebensziele, Umwelt, Lebenserwartung z. B. Das Buch kann aber auch »Verständnis« wecken für historische Fehlleistungen: Missionierung plus Kolonialisierung zum Beispiel: primitivste Stufen in der geschichtlichen Entwicklung der »Papalagis« – des weißen Mannes. Und wenn wir uns auf heute besinnen: für ein besseres und vernünftigeres Verhältnis zu den Entwicklungsländern ist es bereits zu spät. Das Geschäft dazu haben andere übernommen. Vor ein paar Jahren zählte die Erde etwa zwei Milliarden Einwohner, das heißt fünfhundert Millionen Menschen und eine Milliarde fünfhundert Millionen Eingeborene. Die ersten verfügten über das Wort, die anderen entliehen es. Zwischen jenen und diesen dienten käufliche Könige, Feudalherren und eine aus dem Boden gestampfte falsche Bourgeoisie als Vermittler. In den Kolonien zeigte sich die Wahrheit nackt: die »Mutterländer« bevorzugten sie bekleidet; der Eingeborene mußte die Mutterländer lieben. Wie Mütter.
Der Papalagi wird in diesen Reden durchschaut; durchschaut und gesehen, so wie’s nun mal bei uns ist, von einem der viel spürte, aber keine Macht hatte: warum auch, er wollte keine.
Wir Europäer werden nie mehr zu uns finden (im Sinne des Häuptlings). Wir finden uns auch nie mehr in derselben Klarheit beobachtet, wie es der Häuptling konnte. Was wir noch könnten, ist: aus den Reden ein wenig Hoffnung nehmen, etwa: so ist es zwar bei uns, aber muß es so sein und so bleiben? Darum, Häuptling, kann man auch jetzt noch deine Reden lesen und hören.
Zürich, Dezember 1976 Bertolt Diel Erich Scheurmann 1878–1956
Erich Scheurmann –Versuch einer Biographie
A Is 1920 auf dem deutschen Buchmarkt das Werk »Der Papalagi« erschien, horchte die Presse auf. Hier lag nun zum ersten Mal in der Geschichte der Deutschen Literatur ein Buch mit dem Thema vor, Europa als etwas Exotisches zu sehen. Das Buch erlebte Auflage um Auflage und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Der Verfasser des »Papalagi«, der am 29. November 1878 geborene Erich Scheurmann, wurde von der Presse und von vielen Lesern buchstäblich bestürmt. Er, der mit seiner Frau abgeschieden auf einer Halbinsel am Untersee im Süden Deutschlands lebte, fand sich plötzlich im Gespräch. Infolge des guten Absatzes seines Werks verfügte er zum ersten Mal in seinem Leben über ein Bankkonto. Auch gab ihm das große Interesse an seinem Werk das Gefühl, endlich etwas Wertvolles und Wichtiges geschaffen zu haben.
Doch verfolgen wir sein Leben zurück: Der Sohn gutbürgerlicher Kaufleute war weder ein außergewöhnliches Kind noch ein besonders guter Schüler. Träumerisch wie er war, zeichnete und malte er gerne. Nach der Schule trat er ins elterliche Modegeschäft ein, bis eines Tages ein ehemaliger Zeichenlehrer die Eltern zu überzeugen vermochte, ihren Sohn an einer Kunstgewerbeschule in Hamburg anzumelden, da seine Begabung doch offensichtlich mehr auf zeichnerischem Gebiet lag. Mit einem guten Abschlußzeugnis reiste Erich Scheurmann ein Jahr später nach Nürnberg, um an einer Kunstschule weiter zu studieren. Doch fühlte er sich in Nürnberg eingeengt. Viel lieber wanderte er mit seinem Skizzenblock durch die Umgebung der Stadt. Dabei, so sein Gefühl, lernte er mehr als an der trockenen Kunstschule.
Bald kehrte er wieder zu seinen Eltern zurück. Diesmal aber mit der Bitte, ihn an die Akademie in München zu schicken. Nach langen Beratungen willigten seine Eltern schließlich ein. Zusammen mit einem Freund aus seiner Nürnberger-Zeit machte er sich nach München auf. Doch seine großen Erwartungen wurden zunichte gemacht. Die Akademie war institutionalisiert, trocken und wieder fühlte er sich eingeengt von Normen und Theorien. Er entschloß sich, zusammen mit seinem Freund Deutschland zu erwandern. Auf dieser Reise lernte er eine junge Frau aus Dresden kennen, in die er sich sofort verliebte. Das junge Paar heiratete in München und siedelte sich bald darauf am Untersee an. Mit den ausreichend vorhandenen finanziellen Mitteln seiner Frau wurde ein Haus gebaut und für Erich Scheurmann begann eine neue Zeit. Die Malerei alleine vermochte ihn
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