Der Pate von Bombay
Fenster schauen und den von den Lichtern der Stadt erhellten Himmel betrachten konnte. Links war ein langer grauer Streifen zu sehen, das zinnengekrönte Nachbarhaus, vom Fensterrahmen in etwas Abstraktes verwandelt, rechts die sogenannte Dunkelheit, die sich vor seinen Augen sanft in ein amorphes, stetiges gelbes Leuchten auflöste. Sartaj wußte, woher es kam, wie es entstand, aber wie immer staunte er darüber. Er dachte daran, wie er auf einer Straße in Dadar Kricket gespielt hatte, dachte an das schnelle »tock« des Tennisballs und die Gesichter der Freunde, an das Gefühl, die ganze Stadt mit seinem Herzen umfangen zu können, von Colaba bis Bandra. Doch inzwischen war sie zu groß geworden, sie entglitt ihm, Familie reihte sich an Familie, und es entstand dieser kühle, endlose Schein, den man unmöglich mehr kennen und dem man nirgends entgehen konnte. Hatte es sie wirklich gegeben, die leere kleine Straße, auf der die Kinder Kricket spielen konnten und Dabba-ispies 140 und Tikkar-billa 634 , oder hatte er sie aus irgendeinem grobkörnigen Schwarzweißfilm gestohlen? Hatte sie sich zum Geschenk gemacht, diese Erinnerung an einen glücklicheren Ort?
Er stand auf. Am Fenster lehnend, trank er seinen Whisky aus, kippte das Glas so weit, daß er noch den letzten Tropfen erhaschen konnte. Er beugte sich hinaus, suchte nach einem Windhauch. Der Horizont war fern und verschwommen, mit grellen Lichtern darunter. Sartaj schaute hinab und sah tief unten auf dem Parkplatz etwas glitzern, Glimmer oder einen Glassplitter. Plötzlich dachte er, wie einfach es wäre, sich immer weiter hinauszulehnen, bis sein Gewicht ihn mitzog. Er sah sich stürzen, seine weiße Kurta 354 wild flatternd, Brust und Bauch entblößt, die wehende Nada 440 , einen abwärts segelnden blau-weißen Gummischlappen, seine Füße, die einen Kreis beschrieben, und, noch ehe er vollendet war, hörte er das kurze Krachen des Schädels und dann - Stille.
Sartaj trat vom Fenster zurück. Sehr behutsam stellte er das Glas auf den Couchtisch. Was war das eben? Er sagte es laut: »Was war das eben?« Er setzte sich auf den Boden. Seine Knie schmerzten beim Abwinkein, und auch seine Schenkel taten weh. Er legte die Hände mit den Handflächen nach unten auf den Tisch und betrachtete die weiße Wand. Er war still.
Katekar verzehrte die Reste des Sonntagsessens. Rechts unten an seinem Rücken zuckte ein Muskel, doch das schlichte, aber reichliche Mahl - Hammelfleisch mit Reis und Kartoffeln - bot dicken, heißen Trost, und von dem scharfen Genuß der grünen Chili-Pickles brannten ihm die Lippen, so daß er die Krämpfe vergessen oder zumindest ignorieren konnte.
»Noch mehr?« fragte Shalini.
Er schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück und rülpste. »Nimm du dir doch«, sagte er.
Shalini schüttelte ihrerseits den Kopf. »Ich hab schon gegessen.« Sie schaffte es, einem Hammelfleischgericht spätabends zu widerstehen, doch nicht nur davon blieben ihre Arme so dünn wie am Tag ihrer Hochzeit vor fast genau neunzehn Jahren. Katekar beobachtete sie, wie sie den Herdschalter mit einer knappen Bewegung nach links drehte, von der höchsten Stufe auf Null. Ihre Gesten hatten etwas angenehm Präzises, als sie die Küchengeräte für den Abwasch am nächsten Morgen aufeinanderstapelte, eine saubere Effizienz, ganz und gar funktional in dem wenigen Raum, den sie einnahm. Sie war sparsam, und sie stillte seine Begierden.
»Komm, Shalu«, sagte er und wischte sich entschlossen über den Mund. »Es ist spät. Gehen wir schlafen.«
Er schaute zu, wie sie die Arbeitsfläche scheuerte, gründlich, mit klirrenden gläsernen Armreifen. Das Kholi 338 war klein, aber blitzsauber. Als sie fertig war, löste er die Beine des Klapptischs und schwang ihn zur Wand hoch. Die beiden Stühle kamen in die Ecken. Während sie die Küche aufräumte, rollte er dort, wo der Tisch gestanden hatte, zwei Chatais 111 aus. Er legte eine Matratze und ein Kissen auf ihre Matte, auf seine eigene nur ein Kissen, denn sein Rücken ertrug nur den harten Boden, dann waren die Betten fertig. Er goß aus dem Tonkrug Wasser in ein Glas, nahm eine Schachtel Monkey-Zahnpulver und ging nach draußen, die Gasse hinunter, setzte vorsichtig Fuß vor Fuß. Die Kholis, meist massiv, aus Ziegelsteinen und Zement gebaut, drängten sich dicht zusammen; über die Dächer und durch die Türen verliefen Stromkabel. Der öffentliche Wasserhahn war um diese Zeit natürlich trocken, aber am Fuß der
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