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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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gemeinsam durchs Leben zu gehen, aber war ihm Ma eine wirkliche Gefährtin gewesen? Die schlichte, stets verschleierte Ma mit ihrer Schüchternheit, ihrem stillen Wesen, ihrer endlosen Hausarbeit. Sie hatte ihren Mann bei seinem kräftezehrenden Aufstieg aus der Armut unterstützt, ihren Verwandten immer stolz von seiner Tätigkeit als Sportlehrer erzählt und ihm jeden Tag persönlich sein warmes Mittagessen gebracht, hatte seine Lieblingsspeisen in einem fünfstöckigen Henkelmann in sein winziges Büro neben dem Fußballplatz der Schule getragen. Aber sie war nicht imstande gewesen, ihm in die fremden Gefilde der englischen Sprache zu folgen, und bis zum Schluß hatten Telefone und Fernbedienungen, die Entfernung fremder Länder, die Größe der Welt sie zutiefst verwirrt. Sie hatten jung geheiratet, der künftige Leichtathletiktrainer Rajinder Prem Yadav und die schlichte Snehlata, waren noch jugendlich unausgereift, und hatten sich zu den beiden grundverschiedenen Stützen im Leben des jungen K. D. entwickelt: Papas glänzend schokoladenbraune Haut unter dem Weiß seines Banian, seine dröhnende Stimme, die den Reihen schwitzender Jungs Kommandos zurief, sein ungelenkes Englisch, seine Strenge, sein faszinierter, neidvoller Blick auf das Leichtathletiktraining in Rußland, und Ma mit ihren teigbedeckten Händen, ihren zahllosen Fest- und Fastentagen und Zeremonien, die in einem ewigen Zyklus aufeinanderfolgten, ihrem unnachahmlichen Lachen, das sie hinter ihrem Pallu versteckte, dem Stolz der Analphabetin auf die akademischen Errungenschaften ihres Sohns. Sie waren jahrzehntelang zusammen gewesen, Papa und Ma. Was hatten sie, Gefährten, die sie waren, abends im Schlafzimmer zueinander gesagt? Hatten sie einander vor diesem unheilvollen Dunkel bewahrt? K. D. fällt ein, wie er einmal nach einer Rauferei mit zwei Jungs von einer rivalisierenden Schule nach Hause rannte, mit schmerzendem Kiefer und einem Riß in der Tasche seines St.-Xavier-Hemdes. Ma hatte ihn an sich gedrückt und sich mit einem Kurkuma-Breiumschlag an ihm zu schaffen gemacht, bis K. D. sie wegschob, damit sie aufhörte. Papa hatte wie eine stählerne Säule dagestanden, die Augen zusammengekniffen, und K. D. gesagt, er solle die Jungs ausfindig machen und zusammenschlagen. »Im nächsten Trimester werden wir Boxen in den Schulsport aufnehmen«, sagte er. »Du mußt lernen, dich zu verteidigen.« Abends hatte Ma K. D. ein Glas Ovomaltine gebracht und ihm gesagt, er solle diese Barbaren von der staatlichen Schule ignorieren. »Die sind doch bloß neidisch, weil du auf so einer guten Schule bist. Vergiß sie, Beta, sei fleißig, dann wirst du vorwärtskommen. Laß dich nicht auf diesen Unfug ein, denk an deine Zukunft.« Ma glaubte fest daran, daß ihm eine große Zukunft bevorstand.
    Inzwischen ist K. D. in dieser Zukunft angelangt und glaubt an gar nichts mehr, ja, er ist sich nicht einmal dieser Schmerzen in Hals und Kopf gewiß, ist von ihnen durchdrungen, doch zugleich außerstande, sicher und zweifelsfrei zu erkennen, ob sie Gegenwart sind oder nur wiedererlebte Vergangenheit. Und in Anbetracht dieses Zerfalls seines Körpers begreift K. D., daß alles, was er in seinem Leben gesehen hat, Einbildung war, daß ein Stein, den man fest in der Hand hält, nur ein Geist ist, den man sich im Kopf erschafft, daß Illusionen die einzige Realität sind. Die Zukunft ist eine Illusion, und die größte und gerissenste aller Illusionen ist die Gegenwart.
    K. D. sieht zu, wie die Sonne die Wand hinaufkriecht. Er denkt über die Farbe nach, ein rotgeflecktes Orange, das mit dem langsamen Aufstieg in blassere Gelbtöne übergeht. Farbe gibt es gar nicht. Es gibt Photonen, die in der Welt herumschwirren und eine dünne Membran auf der Augenoberfläche durchdringen. Es gibt elektrische und chemische Vorgänge, die unvermittelte Effekte zeitigen, ähnlich wie eine Supernova. Aber Farbe als solche gibt es nicht. Eine Krankenschwester geht durchs Zimmer, stupst ihn an und redet mit ihm, doch er beachtet sie nicht. Es ist einfach, sie und das kurze Zwicken der Nadel, die sie in seinen Arm schiebt, zu ignorieren, das sind nicht mehr als diskrete Daten, die durch das Netzwerk seines Bewußtseins fließen, so unwirklich wie die Färbung des Putzes, die jetzt genau dem Farbton der Schale einer Papaya aus Kerala direkt am Stiel entspricht. Es ist eine ganz bestimmte Papaya, die K. D. vor sich sieht, er hat sie im Juni 1977 gegessen, in einem Dak Bungalow in Idukki.

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