Der Pate von Bombay
Belustigung, und DaCunhas Verhalten ist kaum noch höflich zu nennen. K. D. eträgt das alles schweigend, er tut seine Arbeit und gedenkt sie gut zu tun. Am vierten Tag schlagen sie im "Windschatten einer Felswand, die von silbrig glitzernden Adern durchzogen ist, ihr Lager auf, und K. D. öffnet eilig seinen Rucksack und zieht ein Buch heraus, denn es wird nicht mehr lange hell sein. Er giert nach Büchern, nach jedwedem Lesestoff. Das Rätsel der Sandbank , das er sich in die NEFA mitgebracht hat, ist längst ausgelesen. Er hat sich in der Zwischenzeit mit den Etiketten auf Medizinfläschchen und dem Kleingedruckten auf Formblättern begnügen müssen, und als auch die erschöpft waren, erfaßte ihn eine Art Panik, so als würde er langsam ertrinken. Doch dann, kurz vor dem Aufbruch der Patrouille, hat er in einer Ecke des Kommandozelts hinter einem Stapel Proviant- und Materiallisten zwei Bücher gefunden, die ein früherer, möglicherweise längst toter Offizier zurückgelassen hat. Und so liest er nun - in Sichtweite von Tibet - William Benhams Buch der Handlesekunst. Er liest sehr langsam, kostet jeden Satz aus, denn das Buch muß lange vorhalten. Also verweilt er auf jeder Seite bei den Absurditäten dieser Lehre, derzufolge die Gestalt der Zukunft in den Linien der Vergangenheit zu finden und eine Bedeutung in den fleischigen Hieroglyphen der Handfläche zu erkennen sei. Es muß lange vorhalten, denn das andere Buch, Cheiros Chiromantie, das in seinem Rucksack steckt, ist keine zwei Zentimeter dick, und sich diesen Bergen ohne Lesestoff gegenüberzusehen wäre unerträglich.
Plötzlich beugt sich Marak zu ihm herüber und nimmt ihm das Licht. Marak schaut auf das aufgeschlagene Buch hinunter, in dem Benham gerade das übliche Größenverhältnis zwischen Handbergen und Fingern beschreibt. Marak ist völlig fasziniert. Er hockt sich hin, die Arme auf den Knien, und fixiert K. D. »Sie lesen die Zukunft aus der Hand?«
»Ja«, sagt K. D. rasch. »Ja.«
Marak schiebt seine Hand vor K. D.s Gesicht. »Lesen Sie.«
K. D. hält Maraks rissige Hand in seinen beiden Händen und erzählt ihm von der Zukunft. So schwierig ist das gar nicht. Er greift auf einige von Benhams seltsamen Instruktionen zurück, doch vor allem läßt er Marak reden, über seine Ängste wegen der zarten Gesundheit seiner Frau, die Kämpfe um Ackerland mit seinen Brüdern, und K. D. extrapoliert und rät.
»Ihr Vater war ein sehr arbeitsamer Mann, er hat bis an sein Lebensende Tag für Tag von früh bis spät gearbeitet«, sagt er zu Marak, der ihn mit neuer Ehrfurcht betrachtet. Was natürlich völlig fehl am Platz ist, denn diese Aussage hat nichts mit Benhamschem Handlesen zu tun, sondern ist schlicht aus den Hinweisen abgeleitet, die Marak, begierig, die Gestalt seines künftigen Glücks zu erfahren und einen Talisman gegen die Verheerungen zu haben, die sicher zu erwarten sind, in seinen Fragen selbst gegeben hat. K. D. lenkt ihn sanft und spürt dann, daß es nicht gut ist, zuviel zu enthüllen, daß der Fragende nicht ganz zufriedengestellt werden darf - erfreut und beruhigt schon, aber nicht gesättigt. »Genug für heute«, sagt er bestimmt. »Ich bin müde.«
»Ja, Sir«, sagt Marak. »Ich bringe Ihnen einen Tee.«
Was er auch tut. K. D. hat unterdessen das dramatische Schauspiel des schwindenden Lichts auf dem gegenüberliegenden Berg beobachtet, die Bahnen von tiefem Rot und Schwarz. Er nimmt den Becher Tee entgegen und sagt träge: »Wir werden Chinesen sehen.« Er weiß nicht genau, warum er das sagt, vielleicht weil er gerade die Zukunft vorhergesagt hat und irgendwie hofft, daß sie Chinesen sehen werden. Nicht, daß er auf eine Konfrontation oder ein Gefecht scharf wäre. Er ist sich nicht sicher, wie mutig er im Kampf ist, und er weiß aus seinen drei kurzen Ausbildungseinheiten mit der Pistole, daß er ein ausgesprochen schlechter Schütze ist. Aber wenn sie Chinesen sähen, würde seine Ausbildung einen Sinn bekommen, seine theoretische Einweisung Substanz erhalten, und der Feind würde zur Realität werden. Und da er tagelang mit niemandem geredet hat, rutscht es ihm jetzt heraus: Wir werden Chinesen sehen. Und das tun sie tatsächlich. Am nächsten Tag kurz nach drei ruft Thangrikhuma, der an der Spitze geht, nach hinten: »Dushman 187 .« Sie gehen geduckt zum Rand des Grates und spähen durch das trockene Tal auf den benachbarten grauen Fels, wo sich mehrere Punkte bewegen. Thangrikhuma hat sehr gute Augen, K. D.
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