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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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Die Papaya ist ihm völlig präsent, ihr leicht widerlicher Fäulnisduft, das glitschige Fruchtfleisch. Sie ist so real wie die Wand, die jetzt ein schmutziges Weiß annimmt. Und dann merkt er, daß ihre untere Hälfte immer noch dunkel ist.
    Es ist nicht das Dunkel der Nacht. Die untere Hälfte der Wand fehlt, als hätte man K. D. Scheuklappen angelegt. Wenn er den Kopf zurücklehnt und wieder vorbeugt, kann er die Scheidelinie zwischen Sehen und Nichtsehen auf der Wand hoch- und runterbewegen. Und wenn er den Kopf zum Fenster dreht oder auf die andere Seite, zu der Tür in den Flur: ein halbes Fenster, eine halbe Tür. Es ist ein latitudinaler, ein äquatorialer Verlust. Die untere Hälfte der Welt ist aus seinem Gesichtsfeld verschwunden.
    Als er einer Schwester von diesem neuen Symptom erzählt, wird das Personal sofort aktiv. Er wird aus dem Zimmer geschoben, untersucht, gepiekst, von Apparaten durchleuchtet. Dr. Kharas Kommentar später am selben Tag ist klar und sachlich. »Ihr CT zeigt eine weitere Läsion, eine kleine, hier. Wir nehmen an, daß Ihre Sehrinde beschädigt ist.« Sie deutet auf einen Querschnitt des menschlichen Gehirns, dessen einzelne Teile vergrößert und beschriftet sind. Die Farben sind leuchtend, ein Primärblau für die Hirnrinde, ein tiefes Rot für den Thalamus. »Die von dem Tumor verursachte Schädigung führt zu einem Skotom, einem Gesichtsfeldausfall. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Haben Sie gestern nacht irgend etwas gespürt? Übelkeit? Schmerzen?«
    K. D. hätte ihr gern gesagt: Ich habe gespürt, wie mir die eisige Luft in die Kehle schnitt, als ich einen Grat hinaufkletterte, ich habe gespürt, wie mir in den Stiefeln die Blasen an den Füßen aufgegangen sind. »Nein«, sagt K. D., »nichts.«
    Sie nickt und notiert sich etwas auf ihrem Block. Sie ist achtunddreißig, Dr. Anaita Kharas, verheiratet, zwei Kinder. Dr. Kharas und ihr Mann sind beide in Delhi geboren und aufgewachsen. Anjali hat sich ein bißchen über sie kundig gemacht. Sie begegnen einander argwöhnisch, Anaita und Anjali, ein wenig gereizt, aber K. D. sieht, wie sehr sie sich eigentlich ähneln, in ihrer Effizienz, ihrem nüchternen Kleidungsstil, ihrem energischen Auftreten, der Anstrengung, die es sie täglich kostet, angesichts der Skepsis und Aggressivität der Männer ihre Würde und Unabhängigkeit als Frau zu wahren.
    »Ich fürchte, gegen diese Funktionseinbuße können wir nichts tun«, sagt Dr. Kharas. »Es gibt keine Operation, keine Behandlung, durch die sich das rückgängig machen ließe.«
    »Verstehe«, sagt K. D. »Aber wird es schlimmer werden?«
    »Das ist schwer vorherzusagen. Gliome sind von allen Tumoren die am wenigsten berechenbaren. Es hat Fälle von spontanen Remissionen gegeben. Wir werden unser Bestes tun. Versuchen Sie also, sich keine Sorgen zu machen.«
    Er will kein Mitleid, sucht keinen Trost. Was er gern hätte, sind Zahlen. Wie lange wird sein Verstand noch funktionieren, wie schnell wird er schwinden? Sie hat darauf keine Antwort. Sie hält ihm in scharfem Ton einen kleinen Vortrag, er solle sich entspannen, nicht deprimiert sein, nicht aufgeben. Er lächelt für sie. Er mag sie. Als er in der Organisation anfing, gab es dort nur einen Parsi und keinen Moslem, keinen einzigen. Er hat immer wieder dagegen protestiert, hat auf die plumpe Ironie, die krasse Ungerechtigkeit der Tatsache hingewiesen, daß ein säkularer Staat von einer nichtsäkularen Organisation beschützt wurde. Aber den alten Männern an der Spitze erschien das Risiko zu groß, nicht gerechtfertigt angesichts dessen, was auf dem Spiel stand. Vergessen Sie nicht, bekam K. D. gesagt, gegen wen wir kämpfen. Ja. Der Dushman. Die sind dort, und wir sind hier. Die und wir.
    Nun verschwindet sie, die gute Dr. Anaita, von einer ganzen Riege Medizinalassistenten und Krankenschwestern gefolgt. K. D. setzt sich im Bett auf und sieht zu, wie eine klare Flüssigkeit ruckend durch einen Schlauch in seinen Unterarm läuft. Anjalis Frage fällt ihm wieder ein: Warum drei Sadhus, warum hat Gaitonde versucht, die Sadhus zu finden? K. D. führt sich noch einmal seine Verbindung mit Gaitonde vor Augen, den ersten Kontakt im Gefängnis, die Gespräche, die Vereinbarung und dann die Aufträge, die gegenseitigen Gefälligkeiten. Es war eine Notwendigkeit. Verbrechen durchziehen, durchsetzen, zersetzen diese Welt. Die Pakistanis und die Afghanen betreiben einen Zwanzig-Milliarden-Dollar-Handel mit Heroin, der teilweise

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