Der Pate von Bombay
kann den Dushman kaum sehen, aber durchs Fernglas werden aus den Punkten erkennbare Männer, eine Gruppe chinesischer Soldaten, die langsam nach Westen ziehen. Die Jungs und K. D. liegen dicht nebeneinander und beobachten sie. DaCunha raschelt mit einer Landkarte und verkündet dann: »Die sind auf ihrer Seite. Glaube ich.« Ihre Seite ist von unserer nicht zu unterscheiden: In diesem Ödland gibt es keine Grenzsteine, keine Zäune. Aber sie sind dort und wir hier.
Über die nächsten zwei Tage folgen K. D. und seine Männer dem Grat, parallel zu den Chinesen. Sie achten darauf, außer Sicht zu bleiben, und die Chinesen führen sie ganz offensichtlich zu einem neuen Vorposten, drei Bunker auf einem Vorsprung mit Blick auf einen Paß und ein Unterstand für einen schweren Granatwerfer. Das ist eine wertvolle nachrichtendienstliche Information, doch die Männer sind in erster Linie von K. D.s Vorhersage beeindruckt, die sie nicht auf Scharfsinn, Ausbildung oder taktische Kenntnisse zurückführen, sondern auf mystische Erkenntnis. Im Laufe des Marsches kommen sie alle zu ihm, einer nach dem anderen, und so ist er bald mit ihrem Leben vertraut, nicht nur mit der nach außen präsentierten Persönlichkeit, sondern mit ihren Ängsten und Beklemmungen, die er gleichsam einatmet, wenn sie vor ihm kauern. Selbst DaCunha wird schließlich schwach, so daß K. D., als sie sich auf den Rückweg machen, von dessen geistig behinderter Schwester erfahren hat und von Violet, die in Panjim auf ihn wartet. Als sie ihr letztes Lager vor dem Stützpunkt abbrechen, hilft Marak K. D., seinen Schlafsack zusammenzurollen, und lächelt ihn vertraulich an. »Saab«, sagt er. »Am ersten Tag auf unserem Marsch gab es eine Riesendiskussion. Ein paar von uns haben gemeint, es wäre sehr einfach, Sie in den Abgrund zu stoßen. Der neue Offizier ist abgestürzt, war unerfahren, was hätten wir tun sollen?« Marak lacht, während er die Gurte straffzieht. K. D. grinst zurück, doch ihn packt die Angst, und den restlichen Tag geht er möglichst weit vom Steilhang entfernt, so daß er mit der linken Schulter oft den Fels streift. Daß er selbst sterben könnte, ist ihm nie wirklich ins Bewußtsein gedrungen, ist nie als Erkenntnis in seinem Körper angelangt, dessen Zerfall einfach nicht im Bereich des Möglichen zu liegen schien. In den Erfolgsstorys, die er sich selbst erzählt, ist er stets siegreich, manchmal verwundet, aber immer noch am Leben. Diese sehr realen Fremden jedoch haben sein ebenso reales Sterben in Betracht gezogen. Einige von ihnen haben schon getötet und werden es wieder tun, sein Tod hätte sie kaltgelassen. Ein kurzer Stoß, und es wäre mit ihm vorbei gewesen. In dieser Nacht liegt er zitternd in seiner Hütte im Bett. Er traut sich nicht, die Augen zu schließen.
Als er erwacht, ist es dunkel. Er hebt die Hand, doch es ist kein Wecker da, kein leuchtendes Ziffernblatt. Er muß aufstehen, sich rasieren, baden, seinen Bericht schreiben, den verkaterten Captain Khandari aus seiner Benebelung reißen, ihn dazu bringen, seinen Bericht den Dienstweg hinaufzufunken. Wieviel Uhr ist es? Er hat viel zu tun. K. D. schlägt die Decke zur Seite und richtet sich auf, da überschwemmt Übelkeit seinen Kopf, und er muß würgen. Warum fühlt er sich bloß so schwach? Für dieses Muskelflattern in seiner Brust, dieses Zittern, das ihn wieder ins Kissen sinken läßt, war er gestern abend doch nicht müde genug. Die weiße Zimmerdecke holt ihn brutal in die Gegenwart zurück, und mit einem Ächzen begreift er, daß er nicht in seiner Jugend ist, nicht jene erste Ekstase nach einem gut ausgeführten Auftrag auf den kargen Gipfeln im Norden erlebt, sondern in einem Krankenhausbett in Delhi liegt und allmählich den Verstand verliert.
Er denkt über diesen Ausdruck nach: den Verstand verlieren. Was bliebe übrig, wenn man seinen Verstand gleichsam verlegte? Er erinnert sich an die Parabel, weiß, daß zur Erkenntnis des Ich ein anderes Ich notwendig ist, ein Auge, das die Vögel des Selbst betrachtet, während sie sich am Nektar der Welt gütlich tun. Aber gibt es noch einen Betrachter, wenn man die Strukturen des Verstandes wegnimmt, die Fassaden der Sprache, die Grundmauern der Logik, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung? Was bleibt, wenn das alles in sich zusammenfällt? Glückseligkeit oder Betäubung? Präsenz oder Abwesenheit? Die Spinne webt die Vorhänge im Palast der Cäsaren, die Eule ruft von Afrasiabs Türmen die Stunde aus.
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