Der Pate von Bombay
langwierige Arbeit und obendrein vermutlich Zeitverschwendung, deshalb hatte sie niemandem von ihren Nachforschungen erzählt. Sie hatte keine Ahnung, wonach sie suchte, abgesehen von Einzelheiten und einem Muster in diesen Einzelheiten. Über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg würde sich irgendwann ein Zusammenhang abzeichnen, eine Ursachenkette, die sich bis zum Anfang zurückverfolgen ließ. Nein, nicht bis zum Anfang, eher bis zu einem Schnittpunkt, an dem viele Vorgänge zusammenliefen, und irgendwo würde Ganesh Gaitondes Tod hineinpassen. Anjali wollte keine Erklärung, sie mißtraute Erklärungen. Jede Erklärung, jede Lösung ließ zuviel unberücksichtigt. Aber sie setzte auf Assoziationen, Korrelationen, Rhythmen und zeitliche Verdichtungen. Das war es, was K. D. Yadav ihnen hatte vermitteln wollen - ein Gespür dafür, wie der Feind denkt, welche Absichten er verfolgt -, das war es, was Vorhersagen ermöglichte. Und das war es auch, worauf all die Analysen und Querverweise, worauf Computerarbeit und mathematische Berechnungen hinausliefen: das Lesen alter Berichte, einen nach dem anderen. Letztlich kam es nur auf den Instinkt an. Und ihr Instinkt führte sie zu einer Frage, die Gaitondes Rückkehr nach Indien betraf, seinen Tod, seinen Bunker mitten in Kailashpada, die tote Frau. Nichts von alldem paßte zusammen, nichts sprach eine Sprache, die sie verstand. Anjali hatte gelernt, den besonderen Jargon der Berichte zu entschlüsseln, sich das Geschehen hinter dem abgehackten Telegrammstil vorzustellen. Der Bericht, den sie gerade las, war auf neutralem, unliniertem Papier geschrieben.
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STRENG GEHEIM
Codenr. Informant ... 910-02-75P ... Einheit Jammu Alpha
Bericht Nr. ... 2/97 Datum ... 27. 1. 97
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Merkmale Informant - Informant Rehmat Sani ist Bauer, Schmuggler, hat Verwandte beidseits der Grenze. Info stammt von Cousin Yasin Hafeez in pak. Armee
Kommunikation - persönliche Treffen
Glaubwürdigkeit - II
Treffen des Informanten mit Cousin in Dorf Bhanni, 13. 1.97.
Cousin ist Havaldar 265 in 13. Bataillon, Punjab-Regiment in Mandi Chappar. War mit seinem Zug zu Geleitschutz für privaten Dreitonner von bekannter Falschgeldpresse in Shah Karnam Road 142 (s. Bericht 47/96) zu Lashkar-i-Azadi-Stützpunkt in Hafizganj abkommandiert. Lieferung - vier Kisten, 120x120x120 cm - wurde entgegengenommen v. Rashid Khan, stellv. Kommandant v. Lashkar. Informant hat keine weitere Info bez. Inhalt. Inhalt mit hoher Wahrscheinlichkeit große Mengen Banknoten mittleren Nennwerts für Frühjahrsoffensive im Tal u. a. Informant zu weiterer Beobachtung aufgefordert.
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Anjali kannte den Verfasser des Berichts, er war während der Ausbildung in ihrer Gruppe gewesen. Er hieß Gaurav Sharma und hatte schon mit Sechsundzwanzig keine Haare mehr auf dem Kopf gehabt. 1997 war er nach Jammu geschickt worden, und die »hohe Wahrscheinlichkeit« war ein kleiner Hinweis auf ihn. Während der Ausbildung hatte er sich für die Chaostheorie begeistert und den anderen bei Tee und Samosas die Wonnen von Fraktalen und seltsamen Attraktoren nahezubringen versucht. Seinen Bericht hatte er, wie sie es gelernt hatten, unpersönlich und objektiv gehalten. In dieser Form wurden Informationen nach oben weitergegeben. Der Informant war zweifellos ein verschwitzter Ganove, ein Grenzkrimineller, ein Schmuggler und Mörder, zum Fatalisten geworden durch die Artilleriegranaten, die in den letzten fünfzig Jahren über seinem Kopf abgefeuert worden waren, die in seinem Dorf und auf den Feldern Onkel und Tanten von ihm getötet hatten. Er war der Typ, der in Neumondnächten über die Grenze ging, der sich nichts dabei dachte, Niemandsland zu durchqueren, wo man jederzeit unter Beschuß geraten konnte. Er konnte stundenlang reglos unter sporadischem, ungezieltem Maschinengewehrfeuer in einem Weizenfeld liegen, er wußte, wann er vorwärts kriechen und wann er in Deckung verharren mußte. Zweifellos hatte er seinen Cousin in der pakistanischen Armee dazu verleitet, Informationen an ihn weiterzugeben, hatte ihm erst günstige Kredite für Hochzeiten und Traktoren in Aussicht gestellt und ihn dann mit Bargeld versorgt. Er bekam Geld von beiden Seiten, durch seinen Cousin und seinen Verbindungsoffizier. Und zweifellos hatte der Verbindungsoffizier ihm Kisten mit billigem Rum übergeben, von denen er jeweils drei über die Grenze in die rituell reinen Regionen Pakistans geschafft hatte. Der VO hatte sich Ende Januar '97 mit ihm
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