Der Pate von Bombay
militanter Kräfte berichtet, die unter Führung eines gewissen rothaarigen Mourad im Kaschmirtal operierte. Es handelte sich natürlich um denselben Mann. Bedeutete sein Auftauchen im Tal, daß jetzt die GIA selbst in die Kämpfe eingriffen, daß sie Geld, Waffen und Männer schicken würden? Oder war Mourad allein, auf der Suche nach einem neuen Krieg, einer neuen Mission? Das war die Frage. Anjali las den ganzen Vormittag und den ganzen Nachmittag und suchte nach Verbindungen, nach den Geschichten von Männern und Frauen, ihren Ideen, ihren Zusammenschlüssen, ihren Grenzübertritten. Sie las interne Berichte aus dem Tal, Dokumente von Expertenkommissionen aus Washington, Informationen der CIA, drei Kapitel eines von einem deutschen Professor verfaßten Buches über die Unruhen in Algerien, Fotokopien von Artikeln aus algerischen Zeitungen und Zeitschriften mit Fotos der Toten in schlechten Schwarzweißkopien und Agentenberichte der Organisation in Marokko, Ägypten und Algerien über einen Zeitraum von zwei Jahren. Ihre Konzentration umschloß sie wie eine Taucherglocke, so daß sie weder das gelegentliche Geplauder der Kollegen auf dem Flur wahrnahm noch das zunehmende Sonnenlicht auf dem staubigen Fenster oder die Taube, die mit gekrümmten Krallen durch das Gitter stieg und sie ansah. Ab und zu setzte sie eine Wasserflasche seitlich an den Mund und trank daraus, ohne ihr Lesetempo zu vermindern. Während des Studiums hatte sie sich eine Notizentechnik angeeignet, bei der die Zeilen gleichmäßig und leserlich blieben, obwohl sie nur von Zeit zu Zeit einen Blick auf den Block warf, und jetzt füllte sie Seite um Seite. Der Tag verging. Um halb zwei klopfte es leise, und Amit Sarkar streckte den Kopf durch die Tür.
»Kommen Sie rein«, sagte Anjali. »Sie können reinkommen, Amit.«
»Mittagessen, Madam?«
Amit Sarkar war frisch verheiratet, und die Kochkünste seiner Frau ließen ihn von Woche zu Woche wohlgenährter aussehen. Die Magerkeit des hungrigen Studenten aus der ersten Zeit seiner Ausbildung war verschwunden, und neuerdings brachte er einen dreistöckigen Tiffin 632 mit Essen für sich und Anjali mit. Er war stets höflich, aber sie spürte, daß er ihre schlechten Eßgewohnheiten mißbilligte und ihr einsames Dasein einer geschiedenen Frau mit Sorge betrachtete. Manchmal ärgerte sie sich über seine Überheblichkeit und fuhr ihn an, ohne es zu wollen, aber heute war sie froh über die Unterbrechung. Es war erdrückend, sich ständig mit Drohung und Gegendrohung, mit Aggression und der Reaktion darauf zu befassen. Mit seinem Henkelmann trug Amit Sarkar einen Hauch von Normalität, von Heim und Küche in ihr Büro. »Was gibt's heute?«
»Chingri macher, Ma'am, Maithlis Spezialität.«
Maithli war klein und rund, und wenn sie mit vorgerecktem Kinn lächelte, verschwanden ihre Augen. Anjali war ihr zweimal begegnet; sie hatte sie recht konventionell gefunden und wenig mit ihr zu reden gewußt. Aber ihre Krabben waren köstlich. Anjali aß, und Amit erzählte von seinem derzeitigen Projekt. Sie hatte ihn beauftragt, Zahlungen aus dem Ausland, vor allem aus Saudi-Arabien und dem Sudan, an radikale islamische Organisationen in Indien zu verfolgen. Vor zwei Tagen erst hatte er eine Verbindung zwischen einer Studentengruppe in Trivandrum und einem Predigerseminar in Nagpur entdeckt, eine Spur, die von einem Studentenführer über einen Händler als Mittelsmann zu einem fanatischen Mullah führte. Er hatte gute Arbeit geleistet und berichtete nun ausführlich. Der Studentenführer hatte einen Bruder, der in Dubai arbeitete, und dieser Bruder fungierte möglicherweise als Kanal für Geld, Information und Ideologie. Anjali aß und hörte zu. Vielleicht hatte Amit das Zeug zu einem guten Analytiker: Er begeisterte sich fürs Detail und hatte seine Freude an Verknüpfungen. Zwar ging er in seinen Annahmen oft zu weit oder war so sehr auf die Stimmigkeit seiner Hypothesen fixiert, daß er seiner Phantasie die Zügel schießen ließ, aber das konnte man ihm abgewöhnen, und das war ihre Aufgabe. Die nötige Leidenschaft besaß er jedenfalls. Sie wartete, bis er aufgegessen hatte, dann holte sie ihn auf den Boden der Tatsachen zurück: der Bruder, Dubai, tägliche Telefonate. Mehr nicht. »Interessant, aber nicht genug, um so viel daraus zu schließen«, sagte sie. »Wir brauchen mehr.«
»Können wir einen Einsatz beantragen?«
Anjali mußte lächeln. Amit erinnerte sie manchmal an einen Welpen, der hinter
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