Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
Vom Netzwerk:
seiner ersten Ratte herhechelt. »Beantragen können wir ihn schon«, sagte sie, »aber genehmigt wird er nicht. Es gibt zu viele höhere Prioritäten.« Er nickte weise und versuchte einen reifen Gleichmut an den Tag zu legen, aber Anjali sah, daß er seine Enttäuschung hinunterschlucken mußte. Jeder Trainee träumte davon, von der Analyse zur Tat zu schreiten, auf eine heiße Spur zu stoßen und eine Verschwörung aufzudecken, die so gefährlich war, daß es drastischer Maßnahmen, heldenhafter Männer und nächtlicher Schießereien bedurfte, um die Situation in den Griff zu bekommen. Mit diesem Traum traten die Trainees ihren Job an. Doch der Job bestand darin, endlos zu lesen, Bruchstücke von Geschichten zu sammeln und zu begreifen, daß es tödliche Gefahren gab, für deren Bekämpfung dennoch keine Mittel bereitgestellt wurden. Manches beobachtete man und mußte es dann geschehen lassen. Anjali versuchte Amit zu trösten. »Aber man weiß nie. Wir werden die Leute im Auge behalten. Vielleicht packt sie der Ehrgeiz, und sie wagen einen Vorstoß.«
    Amit schien nicht besänftigt, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel und nahm seinen Tiffin. Anjali dankte ihm und vertiefte sich wieder in ihre Papiere. Die Seiten rochen jetzt nach Kurkuma und Ingwer, und sie fragte sich, ob in vielen Jahren einmal ein anderer Mitarbeiter den kaum noch wahrnehmbaren Duft einatmen und plötzlich Sehnsucht nach zu Hause bekommen würde. Sie las weiter, doch Amits Stirnrunzeln ließ sie nicht los. Er wollte nicht immer nur in Delhi am Schreibtisch sitzen, er wollte sich die Hände schmutzig machen. Nun, er würde noch genug Action erleben. Irgend jemanden, irgendeinen Dushman, packte immer der Ehrgeiz, irgend jemand wagte immer einen Vorstoß. In einem kleinen Raum im Bauch des MEA zu sitzen und den ganzen Tag Berichte zu lesen hieß, vom ewigen Aufruhr der Menschheit umtost zu sein, dem niemals endenden Auf und Ab von Begierde, Neid und Haß. Niemand, so schien es, kein Mann und keine Frau, verharrte jemals still in einem Hort der Zufriedenheit. Immer wollte man irgendwohin, wollte jemanden besiegen, wollte etwas haben. Aber das verschaffte Anjali Arbeit, einen Weg im Leben. Sie las weiter.
    Um sechs nahm sie ihre Aktenmappe und ihre Handtasche, steckte ihre Autoschlüssel ins Außenfach der Tasche und ging rasch in die Tiefgarage hinunter. Die beiden wachhabenden Polizisten mit ihren imposanten Schnauzbärten sahen sie gleichmütig an, als sie an ihnen vorbeifuhr, mit jenem undurchdringlichen, kampflustigen Blick, den eine alleinstehende Frau in Delhi nun einmal zu ertragen hatte. Es gefiel ihnen nicht, daß sie eine Frau war, daß sie allein war, daß sie ein Auto besaß und ein Gehalt bezog. In jüngeren Jahren hatte sie solche Blicke erwidert und gefragt: »Was schaut ihr so?« Geschäftsleute und Busfahrer hatte sie auf diese Weise herausgefordert, Studenten, Arbeiter und Polizisten. Polizisten waren die schlimmsten, sie waren durch ihre Autorität geschützt und trunken von einer täglichen Dosis Aggression und Gewalt. Doch auch ihnen hatte sie die Stirn geboten, angespornt von der Erinnerung an ihren Vater, der bewundernd gelacht hatte über ihre burschikose Art, ihren Mut, ihre Entschlossenheit, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie legte sich auch jetzt noch ins Zeug, aber irgendwann hatte sie gemerkt, daß sie zu müde war für solche Konfrontationen. Es lag nicht nur an ihrer Arbeitsbelastung. Sie fühlte sich ausgebrannt, als hätte eine Metallfeder in ihrem Innern ihre Spannung eingebüßt. Sollten die Jüngeren ihren Platz auf den Barrikaden einnehmen, die Mädchen, die bauchfrei und mit dem Handy am Ohr auf dem Campus der Colleges herumliefen. Die wettergegerbten alten Hasen hatten andere Schlachten zu schlagen.
    Anjali fuhr in weitem Bogen auf den Boulevard, blinzelte in die untergehende Sonne und mußte schmunzeln. Wie zahm sie mit den Jahren geworden war! All der revolutionäre Schwung aufgerieben durch - ja, wodurch? Durch Überstunden, Rechnungen, den lärmenden Verkehr, die Luftverschmutzung, die einen schwarzen Film auf Gesicht und Armen hinterließ. Und durch berufliche Niederlagen, die Scheidung und den abrupten Verlust der Liebe, die Erkenntnis tief in ihrem Innern, daß die Zukunft kein unendlich weites Feld war, sondern ein schmales, von Nacht umschlossenes Tal. Wenn sie den krummbeinigen Gang ihrer Mutter betrachtete, die papierene Haut ihrer Hände, spürte Anjali den Druck der Sterblichkeit. Ihre

Weitere Kostenlose Bücher