Der Pate von Bombay
sehen, ob sie sich wieder verschoben hatte. Eines Abends im August erwarteten ihn am Ende des Feldes zwei Männer. Der eine war hochgewachsen und hatte enorm muskulöse Arme und ein kriegerisches Aussehen. Anführer aber war offensichtlich der andere, ein kleiner, dunkelhäutiger Mann mit rundem Gesicht. »Are, bist du Aadil Ansari?« fragte er. Er hielt die Enden seines Gamchha 204 fest und wippte auf den Fersen.
»Ja.«
»Lal salaam 364 . Ich bin Kishore Paswan.«
Aadil wußte nicht recht, wie er auf Kishore Paswans hochgereckte Faust reagieren sollte. Noch nie hatte jemand den roten Gruß an ihn gerichtet, und so legte er nur zögernd die Hand auf seine Brust. Das schien Kishore Paswan jedoch nicht weiter zu stören. Grinsend sah er zu Aadil auf.
»Du hast eine Menge Ärger, hab ich gehört.«
»Wer sind Sie?« Die Naxaliten waren in der Gegend von Rajpur bisher nicht aktiv gewesen, und Aadil hatte den Namen Kishore Paswan noch nie gehört.
»Das hab ich doch schon gesagt. Ich bin Kishore Paswan Jansevak 284 . Komm mit. Erzähl mal, was hier los ist.«
Kishore Paswan faßte Aadil am Ellbogen und führte ihn an den Feldrand, wo sie sich unter einem Baum niederließen. Er hatte eine sehr leise Stimme und ein einnehmendes Wesen, und so erzählte Aadil ihm seine ganze Geschichte, nicht nur von dem gestohlenen Land, sondern auch von seinen Kämpfen in der Grundschule und seiner Zeit in Patna. Paswan hörte ihm zu und berichtete dann von sich selbst. Er stammte aus der Gegend von Gaya, aus einer Familie von Tagelöhnern, die in der antifeudalen Bewegung aktiv gewesen waren. Sein Vater hatte sich den Naxaliten angeschlossen und mit dem großen Revolutionär Chunder Ghosh zusammengearbeitet. Als Kishore Paswan drei Jahre alt war, hatte ein als Geschäftsmann getarnter Polizist seinen Vater und Chunder Ghosh erschossen. Kishore Paswan war von Jugend auf politisch aktiv gewesen und hatte gegen die Unterdrückung durch die hohen Kasten und den Staat gekämpft. So war er zu Kishore Paswan Jansevak geworden. Inzwischen war er Funktionär des PRC, des People's Revolutionary Council, einer legalen Organisation, die sich für die Verbesserung der Lage armer Menschen einsetzte. »Wir engagieren uns für die Gerechtigkeit, mein Freund«, sagte er. »Wenn du ein politisches Bewußtsein hast, gehörst du zu uns. Wenn du intelligent bist, gehörst du zwangsläufig zu uns. Wir wollen die Vereinigung des Proletariats. Bei uns sind alle Kasten und alle Religionen vertreten. Einige unserer führenden Leute sind sogar Brahmanen, aber das spielt bei uns keine Rolle. Wenn du die Struktur der Unterdrückung durchschaust, mußt du dich uns einfach anschließen.«
Und Kishore Paswan beschrieb diese Struktur mit bestechender Logik. Daß der Feudalismus in Rajpur noch existierte, war offensichtlich, daß die reaktionären Klassen das Proletariat unterdrückten, lag auf der Hand. Doch als Paswan Aadil nun mit den Feinheiten des Marxismus-Leninismus-Maoismus vertraut machte, sah Aadil, wie genau die Fakten der Theorie entsprachen. Von Marx hatte er natürlich schon gehört, über Lenin hatte er mit seinen Wohnheimgefährten diskutiert, aber er war zu sehr mit der Zoologie beschäftigt gewesen, um sich in die Werke Maos zu vertiefen, um den Langen Marsch des großen Steuermannes zu begreifen, den Frühlingsdonner, den seine Partei einst für Indien proklamiert hatte. Paswan drückte sich ebenso elegant wie wissenschaftlich präzise aus. Die staatlichen Institutionen seien naturgemäß reaktionär, von der Klassenzugehörigkeit jener bestimmt, die sie beherrschten. Die Polizei und andere Exekutivorgane wurden dazu benutzt, den Klassenkampf der landlosen Bauern im Keim zu ersticken. Was in den reaktionären Zeitungen als »Gefährdung von Recht und Ordnung« bezeichnet werde, sei natürlicher Ausfluß eines soziopolitischen Systems, das Armut erzeuge, Arbeitslosigkeit, Analphabetentum und allgemeine Rückständigkeit von über neunzig Prozent der schuftenden Bevölkerung in den meist ländlichen Gebieten, während zugleich einige wenige parasitäre Klassen in Dörfern und Städten ungeheure Reichtümer ansammelten und in größtem Luxus lebten. Ziel des Klassenkampfes sei es, Feudalismus und bürokratischen Kapitalismus abzuschaffen. Die Widersprüche der gegenwärtigen Klassengesellschaft würden zu deren Vernichtung und einer wahrhaft klassenlosen Gesellschaft auf Erden führen. Die Dialektik selbst werde die notwendige nächste Phase
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