Der Pate von Bombay
hübsch gewesen - war ihr mit Verständnis und Freundlichkeit begegnet, und jetzt, inzwischen in der achten Klasse und voll erblüht, hielt sie ihr noch immer die Treue. Die beiden waren unzertrennlich. Aisha gab sich gern betont unromantisch und zynisch und wollte deshalb nicht zugeben, daß der Blick aus Sharmeens Fenster grandios war, besonders im Januar, wenn, wie im Moment, Schnee lag. Man sah die Eiche, das Kliff und eine langgestreckte, sanft gewellte Wiese, die an einem Dickicht hoher Büsche endete. Bei Vollmond glitzerte alles und sah aus wie eine Wildnis. Sharmeen lag mit schläfrigen, halbgeschlossenen Augen da und stellte sich vor, wie Chandrachur Singh auf einem weißen Pferd durch das Gestrüpp brach und das Kliff hinaufgaloppierte.
»Du träumst mal wieder.« Aisha kniff Sharmeen in den Arm.
Sharmeen kniff zurück und sagte: »Blätter um.« Sie lagen bäuchlings auf der geblümten Tagesdecke, das Kinn auf die Einfassung am Fußende des Bettes gestützt. Das neueste Stardust-Heft lag aufgeschlagen auf dem Boden, wo man es beim ersten Knarren der Treppe schnell unters Bett befördern konnte. Sharmeens Eltern achteten sehr genau darauf, was Sharmeen las, und Stardust war in diesem Haus so streng verboten, daß es nicht einmal einer Erwähnung bedurfte. Besonders Sharmeens Vater hatte seine Tochter von klein auf an Disziplin gewöhnt und sie ermuntert, ihre Werte und die Ehre der Familie hochzuhalten. Er hieß Sahid Khan und war Oberst. Er war an die Botschaft in London versetzt worden und in der ganzen Welt herumgekommen, hatte jedoch nie in seinem religiösen Eifer nachgelassen und war bei Freunden und Kollegen für seine Frömmigkeit und seinen einfachen Lebensstil berühmt. Sharmeen redete zu Hause also nicht von pakistanischen Filmen und Schauspielern, und die empörend schamlose Filmindustrie jenseits der Grenze war erst recht tabu. Trotzdem lasen Sharmeen und Aisha Stardust . Für pakistanische Schauspielerinnen wie Noor und Zara Sheikh 681 interessierten sie sich nur am Rande, ihre wahre Leidenschaft galt dem indischen Film. An einem dreiseitigen Artikel mit Farbfotos über Chandrachur Singh hatte sich ihr jüngster Streit entzündet, und er war nach genau dem gleichen Schema verlaufen wie der vorhergehende und der davor. Sharmeen blieb unerschütterlich in ihrer Verehrung für Chandrachur Singh, sie verteidigte ihn gegen Aishas unfaire Anschuldigungen und Attacken und verlor sich schließlich in Tagträumen von ihm, bis Aisha sie mit einem Zwicken aufschreckte. Aisha blätterte um, und ihr Blick fiel auf eine Doppelseite mit einem Bild von Zoya Mirza.
»Wow!« rief Aisha. »Ist die schön!«
Das war sie zweifellos. Sie lag auf einem roten Diwan, ihr seidig glänzendes Minikleid ließ einen Großteil ihrer langen goldenen Beine frei, und ihr Busen drängte gegen einen tiefen Ausschnitt. »Hm«, machte Sharmeen. Sie hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu Zoya Mirza. Daß sie so groß war, gefiel ihr, und sie mochte auch einige ihrer Rollen, zum Beispiel die der streitbaren Anwältin in Aaj ka kaanun 001 , ihrem zweiten Film, aber sie fand es nicht gut, daß eine Muslimin ihren Körper so zur Schau stellte. Ihr war nicht wohl dabei. Früher hätte sie es scharf verurteilt, sie wäre sich mit Abba und Ammi voll und ganz darin einig gewesen, daß so etwas entschieden von Übel sei. Jetzt aber war sie viel mit Aisha zusammen, und Aisha fand Zoya Mirza cool. Und so sagte Sharmeen: »Ja, die ist okay«, und wollte weiterblättern.
Doch Aisha legte ihre Hand auf Zoya Mirzas flachen Bauch. »Was?« sagte sie. »Die sieht genauso gut aus wie Chandrachur Singh. Viel besser. Das mußt du doch zugeben.«
Doch Sharmeen ging nicht darauf ein, weil sie wußte, wohin diese Diskussion führen würde. Aishas Eltern hielten sich etwas auf ihre Modernität zugute. Ihre Mutter war Immobilienmaklerin, ihr Vater hatte eine Softwarefirma. Ihr ältester Bruder war mit einer weißen Amerikanerin verheiratet, die auch nach der Hochzeit nicht konvertiert war. Und ihre Schwester und sie selbst trugen kein Kopftuch. Aisha war sehr stolz auf ihr langes braunes Haar, und Sharmeen wußte, daß sie, Sharmeen, ihr leid tat, weil sie sich außerhalb des Hauses so konservativ kleiden mußte. Sharmeens Versicherung, sie fühle sich mit bedecktem Kopf geborgener und Allah näher, akzeptierte Aisha nicht. Das sei alles soziale Konditionierung, meinte sie, und Allah habe nie gesagt, daß man sich von Kopf bis Fuß verhüllen
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