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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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müsse. Es war also sinnlos, mit ihr zu streiten, aber zum Streit würde es so oder so kommen, das war vorauszusehen. Und so seufzte Sharmeen und sagte: »Ich finde, sie wirkt immer so ordinär.«
    Aisha rollte sich auf den Rücken, schlug die Hände vor die Augen und stöhnte: »Ordinär? Ordinär? Sharmeen Khan, wir sind hier in Amerika! Du bist ein solcher Fundi!«
    »Bin ich nicht.«
    »Bist du doch.«
    Diesmal waren sie ungewöhnlich schnell in die übliche Sackgasse geraten. Früher in Pakistan, in Rawalpindi und Karatschi, hatte niemand Sharmeen als Fundi bezeichnet, weder Freund noch Feind. Sie hatte von Anfang an Schulen für die Kinder von Armeeangehörigen besucht. Viele ihrer Klassenkameradinnen dort waren genauso angezogen wie sie, die älteren Mädchen hatten den Hijaab 270 getragen, und im großen und ganzen war man sich darüber einig gewesen, was sich gehörte und was nicht. Doch das war eine Ewigkeit her; sie war damals acht, neun gewesen. Inzwischen war sie fast vierzehn, sie befand sich auf der anderen Seite der Erde, Aisha war ihre beste Freundin, und alles war anders. Jetzt mußte sie sich dagegen wehren, als Fundamentalistin bezeichnet zu werden. »Zurückhaltend zu sein heißt doch nicht, daß man ein Fundi ist.«
    Aisha konterte prompt: »Und stolz auf seinen Körper zu sein heißt nicht, daß man ordinär ist.«
    Sharmeen spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog. Sie haßte diesen Dauerstreit, der ihr ein Gefühl der Beengtheit verursachte, vor allem im Bauch. »Okay«, sagte sie und wollte weiterblättern.
    »Was okay?«
    »Okay, sie ist nicht ordinär. Uff! Können wir Zoya Mirza jetzt abhaken?«
    Aisha blätterte um, zu zwei weiteren Bildern von Zoya Mirza. Das Stardust-Heft gehörte ihr, sie hatte es in ihrer schwarzen Tasche mitgebracht und bestimmte somit darüber. Zu Hause durfte sie Stardust lesen, vor den Augen ihrer Ehern, für die Sharmeens Eltern zweifellos Fundis waren. Sharmeen wartete geduldig, bis Aisha mit dem Artikel über Zoya Mirza durch war, und dachte unterdessen an ihre Eltern und deren Glauben. Abba hielt sich strenger an die Gebote der Religion als Ammi. Er trug das Namaaz ka gatta 442 auf der Stirn, zum Zeichen, daß er fünfmal täglich niederkniete und betete, und wenn sie zusammen in einem Flugzeug saßen, beruhigte es sie, wenn er bei Start und Landung in seinem kostbaren kleinen Koran las. Er hatte Sharmeen davon erzählt, wie sein Glaube ihm Halt gegeben und ihm geholfen hatte, trotz aller Schwierigkeiten voranzukommen. Er hatte mit Armut und Enteignung zu kämpfen gehabt, mit Familienproblemen und Diskriminierung, er hatte hart gearbeitet und viel gebetet, und er war in der Militärhierarchie aufgestiegen. Jetzt bekleidete er einen wichtigen Posten an der Botschaft in Washington, und Sharmeen bewunderte und liebte ihn sehr. Was auch immer Aisha und ihre Emigranteneltern von ihm halten mochten - es kümmerte sie nicht.
    »Okay«, sagte Aisha. Sie hatte den Artikel zu Ende gelesen und war nun bereit weiterzublättern, konnte sich aber ein letztes »Die ist so toll, ich sag's dir« nicht verkneifen.
    Sharmeen hielt den Mund, und sie lasen einträchtig einen langen Artikel über Anil Kapoors Karriere und anschließend eine Analyse älterer Stars. Filme sah Sharmeen nur bei Aisha, auf DVD, und ihre Kenntnisse von Stars und deren Werdegang waren längst nicht so umfassend wie Aishas, aber sie hatte ein feines Gespür dafür, was ein Hit werden würde und was nicht, und sie konnte einen Song, den sie nur ein einziges Mal gehört hatte, sofort auswendig. Von den Schwarzweißfilmstars aus der Zeit lange vor ihrer und Aishas Geburt mochte sie besonders Dev Anand. Auch für Amitabh Bachchan hatte sie eine Schwäche. Beides konnte Aisha nachvollziehen; nur bei Chandrachur Singh waren sie geteilter Meinung. Sharmeen hatte sich oft gefragt, warum moderne Zeiten sie mehr entzweiten als alte Zeiten. Im Moment waren sie sich einig über Feroz Khan 194 - beide Daumen nach unten -, aber nicht über Fardeen 191 , von dem man plötzlich überall Fotos sah, obwohl sein erster Film noch gar nicht angelaufen war. Aisha fand ihn cool, für Sharmeen war er eine Niete. »Niete« war eines ihrer neuen Wörter.
    »Sharmeen?« tönte es von unten herauf. »Beta?«
    Sie hatten reichlich Vorwarnzeit. Als Ammi die Tür öffnete, lag das Stardust- Heft sicher unterm Bett, und Sharmeen und Aisha saßen einander auf dem Bett gegenüber wie zwei brave Mädchen in einer ernsthaften Diskussion

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