Der Pate von Bombay
schuppige Haut darunter. Eine Stimme kam unter der Steppdecke hervor, dünn und brüchig. Sharmeen wünschte sich fort, hinaus in die frische amerikanische Kälte.
»Das ist Englisch«, sagte Aisha.
»Blödsinn. Daadi kann kein Englisch. Und Daada 137 konnte nicht mal lesen. Die haben ganz bestimmt nicht Englisch gesprochen.« Daadis Mann war Analphabet gewesen, und Daadi konnte nur Urdu lesen, das wußte jeder in der Familie. Aber sie hatte sich krummgelegt, um Abba zur Schule zu schicken; ihr jüngster Sohn, so hatte sie gesagt, werde einen anständigen Beruf ergreifen und nicht Tempo-Fahrer werden wie sein Vater. Daadas erste Frau und ihre Kinder hatten sie ausgelacht und sie unmittelbar nach Daadas frühem Tod aus dem Haus geworfen. Mit drei Kindern und ohne Geld hatte sie auf der Straße gelebt, und trotzdem hatte sie es geschafft. Sie hatte es geschafft, Abba zu etwas anderem zu machen als einem Tempo-Fahrer. Sharmeen kannte die Familiengeschichte, solange sie zurückdenken konnte, doch daß Daadi Englisch sprach, davon war nie die Rede gewesen. Das war einfach absurd.
»Komm mal her«, sagte Aisha und zog Sharmeen zu sich herab. »Hör mal!«
Sharmeen sah Daadi nun direkt ins Gesicht. Die bleiche Haut war von Flecken entstellt; früher einmal war sie für ihre schimmernde Glätte berühmt gewesen. Von Daadis Schönheit geblendet, hatte Daada sie geheiratet. Seine erste Frau hatte sie gehaßt, hatte sie eine Prostituierte genannt, hatte sich dagegen gewehrt, mit ihr unter einem Dach leben zu müssen. Daada aber hatte Daadi eine Rose genannt, eine Zannat ki hoor 680 . Das konnte man heute kaum noch glauben, wenn man sie so sah, aber alle sagten es. Daadis Atem stank wie alter Klebstoff. So widerlich würde Sharmeen niemals werden, das schwor sie sich. Lieber würde sie vorher sterben. Sie verzog das Gesicht. »Das ist nicht Englisch.«
»Nein. Jetzt spricht sie Punjabi. Was sagt sie?«
Es klang wie ein Sprechgesang, ein Gebet. »Ich weiß nicht«, sagte Sharmeen. »Jetzt komm endlich.«
»Das hab ich schon mal irgendwo gehört. Das ist ein Lied.«
»Ja, ja, sie singt dir einen Daler-Mehndi-Song 144 vor.«
Doch ihr Sarkasmus verfing bei Aisha nicht, solange sie dieses neue Rätsel ergründen mußte. Sie hatte sich tief zu Daadi hinabgebeugt. »Jetzt hat sie aufgehört.«
»Um so besser. Komm hier rüber. Noch fünf Minuten, dann können wir gehen.«
Doch Aisha rührte sich nicht von der Stelle, sie wartete darauf, daß Daadi wieder etwas sagte, und nichts konnte sie davon abbringen. Gespannt beobachtete sie Daadi. Sharmeen wandte sich ab von dem feuchten, faltigen Mund und versuchte das Thema zu wechseln, über irgend etwas anderes mit Aisha zu reden, egal was. Sie probierte es mit Chandrachur Singh, mit Brad Pitt, der Schule, den strengen Lehrern, aber Aisha war nicht bei der Sache und antwortete kaum. Trotz aller Anstrengung gelang es Sharmeen nicht, das Schmatzen zu überhören, das Daadi alle paar Sekunden von sich gab. Schließlich verstummte sie, und beide warteten darauf, daß Daadi wieder etwas sagte.
Trotzdem schrak Sharmeen zusammen, als es soweit war. Diesmal war Daadis Stimme lauter, kräftiger, klang aber noch immer so, als käme sie von woanders, von weither. Es war wieder der Sprechgesang: »Nanak dukhiya sab sansaar« 445 , und diesmal kamen die Worte auch Sharmeen bekannt vor. »Was ist das?« fragte sie.
»Ich weiß nicht«, sagte Aisha.
Daadi verstummte wieder, und in der gespannten Stille, die nun entstand, fügten sich ihre Worte in Sharmeens Kopf zusammen, und sie wußte plötzlich, was sie bedeuteten. Sie wollte es für sich behalten, doch Aisha merkte, wie sich Sharmeens Körper neben ihr versteifte, und fragte: »Was heißt das?«
Sharmeen wollte ihr es nicht sagen. Es ergab keinerlei Sinn. Sie zuckte die Schultern. »Das ist Punjabi.«
»Das weiß ich selber. Aber du kannst doch ziemlich gut Punjabi. Was sagt sie denn?«
Aisha würde nicht lockerlassen, und so flüsterte Sharmeen: »Es ist so eine Art Lied. Das die Sardars in ihrem Tempel singen oder so.«
Aisha schüttelte den Kopf. »Deine Daadi singt ein Sikh-Gebet?«
Sharmeen nickte. »Nanak - das hat doch irgendwas mit den Sikhs zu tun, oder?«
»Ja.« Aisha drückte Sharmeens Hand, und nun stellte sie ihr die entscheidende Frage: »Aber warum?«
»Das weiß ich auch nicht.« Sharmeen hatte keine Ahnung. Daada war Punjabi gewesen, und Daadi war Punjabi-Flüchtling von der anderen Seite. Ihre gesamte Familie war
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