Der Pate von Bombay
Aadil hatte wieder Kopfschmerzen bekommen, die wie ein Sturm sein Rückgrat hinaufwirbelten. Seine Augen hatten gebrannt wie Feuer, und er hatte kaum noch etwas sehen können. Inzwischen war es lange nach Mitternacht, und es ging ihm wieder besser, aber noch immer glühten die Straßenlaternen heiß und hatten einen orangefarbenen Hof. Ein Zug fuhr vorbei, und jedes Rattern und Stoßen schmerzte ihn in den Ohren. Die Jungen hatten ihn in die Mitte genommen, still und besorgt.
Dennoch fühlte Aadil sich lebendig, hellwach durch den Schmerz. Das Knirschen unter seinen Füßen rief eine ferne Erinnerung in ihm wach, die sich näherte und wieder zurückzog, die kam und ging. Er spürte, wie die Erde atmete.
Die Stimmen kamen von vorn und hinten, und sie waren sehr laut. Der Lichtstrahl einer Taschenlampe traf Aadil und mit ihm der Ruf »Polizei!«. Aadil schwenkte nach links und rannte geduckt weg. Vor ihm waren Männer. Seine rechte Schulter streifte eine Blechhütte, eine geschlossene Tür. Vor der nächsten Hütte öffnete sich ein schmaler Spalt. Aadil glitt hinein und stand vor dem Zaun. Auf der anderen Seite waren die Gleise, aber der Zaun war hoch, und Aadil rutschte an den glatten Metallstäben ab. Er drehte sich um, das Hackmesser in der Hand.
»Raus damit, Bhenchod! Wirf das raus!«
Der Polizist hielt eine Pistole auf ihn gerichtet. Aadil sah den Lauf, den Lichtstreifen darauf und die breiten Schultern des Mannes dahinter. Er warf das Messer flach über dem Boden auf die Straße hinaus. Ein leises Klirren. Der Polizist wartete, und der Lauf seiner Pistole senkte sich ein wenig. Aadil sog tief die süße Luft ein, und der absurde Gedanke kam ihm, daß sie vielleicht immer so bleiben könnten, reglos lauernd. Doch er hatte bereits die Hand an seinem Rampuri-Messer, er klappte es blitzschnell auf, und dann stürmte er vor. Der Polizist schoß nicht, vielleicht weil er Aadil im Dunkeln nicht mehr sah, und Aadil stürzte sich auf ihn und stach zu, so wie man es ihm beigebracht hatte, wie er es gelernt hatte, wie er es geübt hatte.
Aadil rannte. Die Polizisten verfolgten ihn, und er rannte. Er hatte noch das Messer in der Hand, und er wollte es fallen lassen, aber er konnte nicht. Er rannte. Dann regte er sich nicht mehr. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder und merkte, daß er am Boden lag, mit dem Gesicht nach unten. Die Straße bog sich von ihm weg, und er sah ein schwach schimmerndes Rinnsal. Er spürte keinen Schmerz. Er fühlte sich weich und verträumt, als würde er gerade aufwachen. Ich glaube, ich habe den Mann getötet, dachte er. Dann wurde ihm bewußt, daß er selbst starb. Und er empfand keine Angst, nicht einen Hauch von Angst. Aber er war unendlich traurig, ohne zu wissen, warum oder wozu, und er wunderte sich und wartete. Dann war er tot.
II
S harmeen verteidigte ihren Helden getreulich. »Das Problem mit dir ist, Aisha Akbani«, sagte sie, »daß du alle fünf Minuten deine Meinung änderst. Heute ist Chandrachur Singh 106 für dich der Größte, und eine Woche später sagst du, du würdest ihn nicht mal anschauen, wenn er mit Rosen unter deinem Fenster aufkreuzen würde. Weißt du, was du bist? Wetterwendisch.« Sharmeen hatte das Wort »wetterwendisch« vor kurzem in einem ihrer Schulbücher gelesen, und sie benutzte es mit Genuß.
Aisha zog ihre zugegebenermaßen sehr hübsche Nase kraus und tat Chandrachur Singh mit einer entschiedenen Handbewegung ab. »Sharmeen Khan«, sagte sie, »wenn's um eine Woche oder einen Monat ginge, okay, dann würd ich dir ja recht geben. Aber der Typ ist doch total out. Maachis 380 ist ewig her, und seitdem hat er keinen einzigen guten Film mehr gedreht. Okay, einen oder zwei vielleicht. Und es sind ja nicht nur die Filme. Ich mag ihn einfach nicht, das sag ich doch die ganze Zeit.«
Sharmeen und Aisha lagen auf Sharmeens Bett in ihrem Zimmer im zweiten Stock eines Hauses in Bethesda. Sharmeen liebte die steil abfallenden Hänge der Landschaft von Maryland vor ihrem Fenster, an denen sich eine mittelgroße Eiche schräg über ein »Kliff« neigte, wie sie es nannte; für Aisha war es nur ein »Abhang«. Aisha konnte einen zur Weißglut treiben mit ihrer Bockigkeit, sie stritt, nur um zu streiten, aber Sharmeen vergötterte sie trotzdem. Sie war ihre beste Freundin, seit sie vor zwei Jahren nach Amerika gekommen war, das sie in ihrem halb Punjabi-, halb Londoner Akzent damals noch »Amrika« ausgesprochen hatte. Aisha - sie war damals noch nicht so
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