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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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ein Sardar-Wort. Du mußt das mit dieser Nikki unbedingt rauskriegen.«
    »Nein, jetzt frag ich ihn nichts mehr.«
    »Ja, schon gut. Der kann einem richtig angst machen, dein Oberst Shahid Khan, mit seinem Riesenschnauzbart und dieser Stimme. Sogar, wenn er nur ›Gute Nacht, Beta‹ sagt. Da krieg ich eine Gänsehaut.«
    Ein Ruck ging durch Sharmeens Kopf, ein kurzer, schwindelerregender Wechsel der Perspektive. Für sie war Abba immer Abba gewesen, ein hochgewachsener, strenger, nach Leder und Arnolive-Haaröl duftender Mann mit Baritonstimme, so beständig wie das Meer. Jetzt sah sie ihn plötzlich mit Aishas Augen, so wie andere ihn sehen mochten, düster und gefährlich und voller Geheimnisse. Sie fühlte sich mit einemmal älter, als hätte sich tatsächlich etwas in ihr verändert, und das gefiel ihr nicht. »Er ist nicht unheimlich«, sagte sie leise.
    Doch Aisha war wieder einmal in Gedanken woanders und hörte nicht mehr zu. Sie starrte Daadi an. Sie hatten sich dicht an ihr Bett gesetzt, für den Fall, daß sie irgend etwas Geheimnisvolles, Schockierendes oder Aufschlußreiches sagte. Doch Daadi sprach wie schon seit Tagen nur noch von Metzgern, Pferden und lange zurückliegenden Reisen, in schlichtem Urdu und Punjabi. »Das ist so langweilig«, sagte Aisha. »Das ist doch alles nichts Neues.«
    »Nein.« Keine Nikki, keine Gebete, nichts. Wenn es überhaupt ein Geheimnis gab, so waren sie seiner Lösung keinen Schritt näher gekommen. Vielleicht gab es gar nichts herauszufinden. Abbas ausweichendes Verhalten war eine Mauer - ja, eine Mauer -, hinter der sich etwas Gigantisches, Erdrückendes verbarg, etwas, das sogar ihn selbst bedrohte. Sharmeen konnte es Aisha nicht erklären, weil sie nicht hätte sagen können, woher sie es wußte, aber es machte ihr angst, und sie wollte nicht daran rühren. Als sie Daadi nun betrachtete, ihre scharfe Hakennase, die sowohl Abba als auch sie selbst von ihr geerbt hatten, wünschte sie, Daadi würde einfach schweigen, sie würde verstummen und nichts Überraschendes, Dramatisches oder Brisantes mehr von sich geben. Am liebsten wäre Sharmeen mit Aisha hinausgegangen und hätte dieses Zimmer mit seinen zerbrochenen Erinnerungen hinter sich gelassen, aber sie hütete sich, etwas zu sagen. Wenn man Aisha bat, dies oder jenes nicht zu tun, tat sie es oft gerade deswegen, auch wenn sie es gar nicht vorgehabt hatte. Sharmeen wartete also. Geduld und Ausdauer hatte sie genug. Es war nur eine Frage der Zeit.
    Doch Aishas Interesse für Daadi hielt sich länger, als Sharmeen erwartet hatte. Während der Winterferien schleppte sie Sharmeen jeden zweiten Tag in den dämmrigen Raum hinauf, und sie setzten sich zu Daadi und unterhielten sich über Filmstars und Musik, Jungen und Schule. Daadi war inzwischen in völliges Schweigen verfallen, das nur hin und wieder von einem Schniefen, Husten oder tiefen Gurgeln unterbrochen wurde. In drei Wochen redete sie nur einziges Mal, und da wollte sie wissen, wann der Zug abfahre. Das wurde zu einem stehenden Witz zwischen Sharmeen und Aisha. Aus irgendeinem Grund fanden sie es schrecklich komisch, einander gelegentlich mit starkem Punjabi-Akzent zu fragen: »Are, sag mal, wann fährt der Zug ab?« Doch als die Schule wieder anfing, ihre Taschen wieder vollgepackt waren und Aisha Sharmeen damit schockierte, wie ungeniert sie mit den Jungen redete, war auch das vergessen. Sharmeen mußte nur noch dann in Daadis Zimmer hinauf, wenn Ammi sie darum bat. Aisha bestand nicht mehr auf den nachmittäglichen Besuchen, und Sharmeen war froh darüber.
    Als der Frühling anfing, starb Daadi, an einem Tag, an dem alle Zeitungen über die frühe Kirschblüte berichteten. Sharmeen kam von der Schule nach Hause und fand Abba in der Küche vor, wo er mit einer dampfenden Tasse Tee am Tisch saß. Ammi stand an der Arbeitsfläche, die Hände auf dem Bauch. Sharmeen wußte sofort, daß etwas Schlimmes passiert war. Abba kam sonst nie so früh nach Hause.
    Ammi sagte es ihr. »Beta, deine Daadi ist heute nachmittag gestorben.«
    Jetzt sah Sharmeen, daß Abba die Tränen herunterliefen. Ihre Knie wurden weich, und sie fing an zu zittern. Ammi stürzte zu ihr, fing sie auf und setzte sie auf einen Stuhl. Beide bemühten sich nun um sie, Abba und Ammi, sie gaben ihr Tee zu trinken und nahmen sie in die Arme. Bei der Beerdigung und danach erzählten sich die Trauergäste, daß Sharmeen beinahe in Ohnmacht gefallen sei, als sie von Daadis Tod erfahren habe, und

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