Der Pate von Bombay
»bring mich nach Hause.«
»Was? Was hast du gesagt, Daadi?« Sharmeen richtete sich auf, kniete sich neben das Bett und nahm Daadis Hand. Sie war federleicht. »Was hast du gesagt, Daadi? Wer ist Nikki? Welche Nikki?«
Daadi sagte: »Nikki, wo ist Mata-ji? Bring mich nach Hause, Nikki.«
»Welche Mata-ji? Meinst du deine Ammi?«
Doch Daadi hatte sich schon wieder in sich zurückgezogen und schaute durch Sharmeen hindurch, aus dem Fenster und in die Ferne. Sharmeen konnte nicht erkennen, ob sie den Schnee sah, die Bäume, überhaupt irgend etwas. Sie blieb noch eine Weile bei ihr sitzen, bettete sie dann wieder in die Kissen und deckte sie zu. Beim Abendessen fragte Sharmeen Ammi: »Woher stammt Daadi eigentlich?«
Ammi zuckte die Schultern. »Frag Abba.«
Mehr erfuhr Sharmeen für den Moment nicht, sehr zur Enttäuschung Aishas, die telefonisch über Daadis Aufforderung an Nikki informiert worden war. Doch Abba war an dem Abend nicht zu Hause, er machte wieder einmal Überstunden, und alle Fragen mußten bis zum nächsten Morgen warten. »Schon komisch, daß du nur ihn fragen kannst«, sagte Aisha. »Meine Mutter kann einem alles über Papas Familie erzählen.«
Sharmeen protestierte nur schwach. Sie wollte ihre Eltern nicht komisch finden, aber war es nicht tatsächlich sonderbar, daß Amma so viel von ihrer eigenen Familie und deren Herkunft erzählte, aber nie etwas von Daadi? Bei ihr würde Sharmeen nicht weiterkommen, und so wartete sie bis zum nächsten Morgen, wartete, bis Abba gebadet, sein Fajr-Gebet 189 gesprochen und gefrühstückt hatte. Bevor sie aus dem Haus ging, plauderten sie immer noch ein wenig. Abba interessierte sich besonders für die Schule, sie erörterten die religiösen Aspekte vieler Themen, die dort behandelt wurden, und er äußerte seine Meinung zum Weltgeschehen. Er war Experte für internationale Angelegenheiten, und er war - so schien es Sharmeen zumindest - fast überall gewesen. Sie liebte es, wenn er ihr den Dschungel von Myanmar oder die Steppen der Ukraine beschrieb. Er strich sich über seinen ergrauenden Schnauzbart und erzählte ihr mit seiner tiefen Stimme von den Tigern, die er in Nepal gesehen hatte, von den Pferden in Schweden.
Heute unterhielten sie sich über Afghanistan und den Irak, und während Sharmeen ihre Schultasche packte, fragte sie: »Abba, woher stammt Daadi eigentlich?«
Abba strich die Sets auf dem Tisch glatt. »Aus dem Punjab. Das liegt heute jenseits der Grenze.«
»Ja, aber woher genau?«
»Aus der Gegend von Amritsar.«
Abba war ganz entspannt, doch weitere Fragen in diesem Moment hätten ihn stutzig gemacht. Sharmeen ging zur Schule, beschwichtigte die ungeduldige Aisha und wartete ab. In den folgenden drei Tagen stellte sie Abba, so hoffte sie, harmlose, beiläufige Fragen über seine Familie, wie es für ein Mädchen ihres Alters nur natürlich war. Sie erfuhr, daß Daadi vor ihrer Heirat Nausheen Sharif geheißen hatte; daß sie Geschwister gehabt hatte, die sie auf der Flucht nach Pakistan verloren hatte; daß es keine lebenden Verwandten mehr von ihr gab, nicht einen einzigen; daß sie das College besucht, aber nicht abgeschlossen hatte; daß sie gern Jalebi aß und Khari-Lassi trank. »Und«, fragte Sharmeen schließlich, »wo ist Nikki?«
»Nikki?«
»Sie hat irgendwas von einer Nikki gesagt, als ich bei ihr oben war.«
»Du bist in letzter Zeit ziemlich oft bei ihr oben.«
Sharmeen und Aisha gingen jetzt jeden Nachmittag zu Daadi hinauf und paßten auf, ob sie Sikh-Gebete oder Englisch sprach oder etwas von dieser Nikki sagte. Ammi war hocherfreut, daß Sharmeen neuerdings diese häuslichen Pflichten übernahm, Abba aber verhielt sich strikt neutral. Was er dachte oder empfand, war meist schwer zu erkennen. Er tat eine Äußerung, mit einer Stimme, die nichts verriet, dann trat Stille ein. Er hielt dieses Schweigen länger aus als irgend jemand sonst, und wenn man schließlich etwas sagte, war es, als würde er direkt durch einen hindurchschauen. Angst stieg wie Lava durch Sharmeens Wirbelsäule auf, und sie sagte so ruhig wie möglich: »Sie ist so alt, bestimmt fühlt sie sich einsam.«
Da wurde er weich, forderte Sharmeen auf, sich neben ihn zu setzen, obwohl sie zu spät zur Schule kommen würde, und erzählte ihr vom Mondlicht auf den Himalaya-Gipfeln.
»Und von Nikki hat er nichts gesagt?« fragte Aisha am Nachmittag. »Kein ja, kein nein, kein gar nichts?«
»Nein.«
»Dieses ›Mata-ji‹, das ist, glaub ich, auch
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