Der Pate von Bombay
wildfremde Leute traten zu ihr und redeten vom Hinnehmen, von Allahs Willen, von einem langen, langen Leben und ewiger Liebe. Sharmeen sagte niemandem, auch später nicht, was sie an jenem Tag so erschreckt, was ihr einen Stachel tiefster Furcht ins Herz getrieben hatte: nicht die Nachricht von Daadis Tod, sondern die Trauer des Kindes in Abbas Zügen, in denen sich unendliche Sehnsucht, Verlorenheit und Verunsicherung spiegelten, ein Ausdruck, den sie nie zuvor an ihm gesehen hatte und nie wieder sehen wollte. Sie hielt den Kopf gesenkt, verhielt sich ganz still und wartete, bis alles vorbei war.
Und noch etwas sagte Sharmeen niemandem, nicht einmal Aisha.
Nach Daadis Tod wachte sie vier Wochen lang jede Nacht mehrmals auf, erhitzt und schwitzend, und in ihrem Kopf wirbelten Erinnerungen an Daadi durcheinander, an ein Lied, das sie gesungen hatte, daran, wie sie in der Crystal City Mall ein Paar Sandalen dreimal umgetauscht hatte und die Verkäuferinnen schon den Kopf geschüttelt hatten, wenn sie herangehumpelt kam. Sharmeen setzte sich dann auf, trank einen Schluck Wasser und versuchte wieder einzuschlafen. Doch es war, als holten dünne schwarze Haken in ihrem Herzen sie mit kleinen Nadelstichen der Schuld immer wieder zurück. Und diese schmerzhaften Stiche rührten nicht nur daher, daß sie seit ihrem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr genug Zeit mit Daadi verbracht hatte, daß sie zu beschäftigt gewesen war, mit der Schule, mit Aisha, mit Chandrachur Singh. Nein, das war es nicht allein. Es war auch die bittere Erkenntnis, daß Daadi wirklich tot war und Sharmeen nun nie mehr erfahren würde, was es über sie zu erfahren gab. Es war noch nicht lange her, da hatten Daadis Reden, ihre Geschichten vom Entzünden der Öllampen während eines Monsunsturms sie gelangweilt. Und jetzt war es, als wäre eine Welt untergegangen an jenem Dienstagnachmittag im amerikanischen Frühling, als wäre ein ganzes Universum einfach ausgelöscht worden. Es war für immer verloren.
Eines Dienstagnachts, vier Wochen nach Daadis Tod, wachte Sharmeen auf. Sie versuchte die Augen geschlossen zu halten, nicht daran zu denken, daß sie wach war. Vor kurzem hatte sie festgestellt, daß gerade die Ungewißheit, ob sie wieder würde einschlafen können, sie wach hielt. Sie versuchte deshalb, ganz still zu liegen und tief zu atmen. Sie versuchte, an schöne, angenehme Dinge zu denken und baute gegen den Ansturm der Erinnerungen das Bollwerk einer imaginären Landschaft auf: ein bewaldeter Hügel, nein, ein Strand, vor dem sich blaugrün das Meer dehnte. Dann gab sie seufzend auf. Sie war wach. Sie öffnete die Augen, und Daadi saß auf dem Bett, ganz am Fußende. Sie trug ihren dunkelblauen Lieblings-Paschminaschal, den sie erst vor drei Wochen bekommen hatte, und sie war sehr jung und sehr schön. Sie hatte eine hohe Stirn, und ihr schwarzes Haar fiel in üppigen, altmodischen Kringeln herab. Ich träume, dachte Sharmeen. Wach auf. Aber sie konnte nicht aufwachen, und Daadi saß noch immer dort, unverkennbar, hinter ihr das Mondlicht im Fenster. Wenn ich mich aufsetze und Wasser trinke, dachte Sharmeen, dann geht das weg. Doch ihre Arme und Beine waren bleischwer, und sie konnte sich nicht bewegen, sosehr sie sich auch anstrengte. Sie dachte daran zu beten, doch dann regten sich Schuldgefühle in ihr, weil sie sich vor Daadi fürchtete. Und dann sagte Daadi ganz leise, nicht traurig, doch voller Zärtlichkeit: »Nikki, bring mich nach Hause.«
Da erwachte Sharmeen. Sie konnte sich bewegen, und sie setzte sich auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie war erleichtert, und zugleich kam sie sich albern vor. Morgen erzähle ich Aisha, was für einen komischen Filmi-Traum ich hatte und wie real er war. Vielleicht erzähle ich es auch Abba und Ammi. Sie stellte es sich vor, stellte sich ihre staunenden, besorgten Gesichter vor, sah sich selbst, wie sie es ihnen erzählte, ihnen, Aisha und irgendwann einmal auch anderen.
Doch sie erzählte es niemandem, auch später nicht. Nach einigen Monaten begann ihre Erinnerung an den Traum zu verblassen, und das leuchtende Schwarz von Daadis Haar, das Blau ihres Schals wurden stumpf und verschwammen. Zu ihrem nächsten Geburtstag schenkte Aisha ihr ein rosa Tagebuch mit einem kleinen goldenen Schloß. Spät am Abend dachte sie an ihren Traum von Daadi und nahm sich vor, ihn aufzuschreiben. Aber sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, was Daadi in dem Traum gesagt hatte, und nach einer Weile gab
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